Arbeit im Sinne der Arbeitnehmer*innen -Wie die Arbeitswelt von morgen aussehen muss von Wolfgang Katzian und Korinna Schumann

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Der Motor für Verbesserungen in der Arbeitswelt waren und sind Arbeiter*innenbewegungen und Gewerkschaften. Bevor sich die Arbeitnehmer*innen zusammenschlossen und organisierten, arbeiteten die Erwachsenen bis zu 16 Stunden in Fabriken, Kinderarbeit war notwendig, um das Überleben zu sichern. Unterstützung im Falle von Arbeitslosigkeit und Krankheit gab es nicht. Arbeiter*innen bettelten vor Fabriken um Jobs und hatten kaum Möglichkeiten, sich gegen das Herabsetzen eines bereits zu niedrigen Lohns oder gegen Schikanen zu wehren. Was sich nach Dystopie und längst vergangenen Tagen anhört, ist etwas, das unsere Urgroßeltern und Großeltern noch miterlebten. Die Arbeitslosenversicherung gibt es beispielsweise seit rund 100 Jahren, vorher waren Menschen, die ihre Arbeit verloren hatten, auf die meist unzureichende Armenversorgung der Heimatgemeinde angewiesen. Die erste systematische Arbeitslosenunterstützung gab es in den Gewerkschaftsorganisationen, die diese für ihre Mitglieder aufstellten. Dass Solidarität unter den Arbeitnehmer*innen der Schlüssel für Verbesserungen ist, war für Gewerkschaften und Gewerkschaftsmitglieder klar, daher sind Kollektivverträge auch die wichtigste Errungenschaft der Gewerkschaftsbewegungen. Nicht der*die einzelne Arbeitnehmer*in, sondern die Interessenvertretung verhandelt, um so für Betriebe oder ganze Branchen einheitliche und bessere Einkommen und Arbeitsbedingungen zu erreichen. Österreich ist mit einer Kollektivvertragsabdeckung von 98 Prozent auch absolutes Spitzenfeld in Europa. Doch der Weg dorthin war weit. 1896 wurde in Österreich erstmals ein umfassender Kollektivvertrag für die Buchdrucker abgeschlossen, danach dauerte es noch über 20 Jahre, bis die erste gesetzliche Grundlage geschaffen wurde. Heute verhandeln die Gewerkschaften in Österreich über 450 Kollektivverträge jährlich. Die voranschreitende Industrialisierung, der sich ausbreitende Kapitalismus und der Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert prägten und veränderten die Rahmenbedingungen der Arbeiter*innen grundlegend. Das unsagbare Elend der Arbeiter*innenklasse nicht länger erduldend, kämpfte die Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung für Absicherungen und Rahmenbedingungen, die heute für uns selbstverständlich scheinen. Hyperglobalisierung, Digitalisierung, Privatisierungen, neoliberale Ideologie, demografische Veränderung und die Klimakrise prägten das Ende des 20. Jahrhunderts ebenso wie das aktuelle Jahrhundert. Hinzu kommen multiple Krisen, die entweder kurz nacheinander oder gleichzeitig auftreten.
Die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise, die Klimakrise, die Pandemie, die Energiekrise und Kriege: All das hat Einfluss auf die Arbeit und die Arbeitswelt in Österreich. Es ist daher wichtig, diese Veränderungen der Arbeitswelt aktiv zu gestalten, den Arbeitnehmer*innenschutz sicherzustellen und die Rahmenbedingungen im Sinne der Arbeiter*innen und Angestellten weiterzuentwickeln.
1. Digitalisierung
Die Zukunft der Arbeit hat schon längst begonnen. Homeoffice, virtuelle Teams, aber auch Videokonferenzen sind längst alltägliche Wirklichkeit für Hunderttausende Arbeitnehmer*innen in Österreich. Die Veränderungen sind noch lange nicht abgeschlossen, die Digitalisierung wird sich in den kommenden Jahren noch verstärken. Immer mehr Jobs, vor allem Routinetätigkeiten werden automatisiert und verschwinden, aber auch viele neue Aufgaben und Jobs entstehen – nicht immer zum Vorteil der Menschen. Arbeitstempo, Arbeitsverdichtung und Arbeitsintensität aufgrund stetig schnellerer Taktung der Abläufe werden mit der Digitalisierung weiter steigen, wodurch Leerläufe im betrieblichen Ablauf weitgehend eliminiert werden. Die Digitalisierung des Arbeitsplatzes oder einzelner Arbeitsschritte ermöglicht darüber hinaus oft eine lückenlose Überwachung und Dokumentation sämtlicher Tätigkeiten im An
wendungsbereich, wie z. B. durch umfassende Ortung von Menschen, aber auch durch die Überwachung von Arbeitsmitteln. Das erzeugt zunehmenden Stress und Arbeitsdruck. Immer wieder werden Fälle bekannt, wo Unternehmen rechtswidrig ihre Arbeitnehmer*innen überwachen – so beispielsweise Ende letzten Jahres, als ein gehobenes Wiener Restaurant seine Arbeitnehmer*innen umfassend videoüberwachte und hochsensible biometrische Daten der Arbeitnehmer*innen sammelte. Daraufhin gab es ein arbeitsgerichtliches Verfahren und eine Beschwerde bei der Datenschutzbehörde, die den Arbeitnehmer*innen Recht gab und feststellte, dass die Kontrolle der Mitarbeiter*innen mittels umfassender Videoüberwachung in der Küche und anderen Arbeitsbereichen unzulässig sei. Betriebsrätinnen*Betriebsräten kommt beim Abschluss von Datenschutzvereinbarungen eine wichtige Rolle zu. Es gilt, dass das Maß für die Gestaltung des Arbeitsplatzes und für den Aufgabenzuschnitt immer die Fähigkeiten, Voraussetzungen und Bedürfnisse der Menschen sind und nicht allein die technische Machbarkeit von Systemen. Deshalb ist die Einbeziehung der Betroffenen bei der Einführung von neuen technischen Anwendungen enorm wichtig. Es soll keine Digitalisierung von oben geben, bei der männliche Techniker z. B. Anwendersoftware für weibliche Pflegekräfte entwickeln, die ihnen dann als arbeitsunterstützend vorgesetzt wird. Oft binden Unternehmen in digitale Veränderungsprozesse nur Führungskräfte, IT-Abteilungen und Externe ein. Doch diese Lösungen gehen dann oft an der Arbeitsrealität der Betroffenen vorbei. Betriebsrätinnen*Betriebsräte haben bei der Einführung von neuen Technologien jedenfalls ein Recht auf Mitbestimmung nach dem Arbeitsverfassungsgesetz.
1.1 Plattformarbeit und Gig-Economy
Plattformarbeit, Gig-Economy und Prekariat sind Begriffe, die oft gemeinsam mit Digitalisierung fallen. Gig-Work ist angelehnt an Musiker*innen, die pro Gig bzw. Auftrag bezahlt werden. Ähnlich zum System der Plattformarbeit: Eine Plattform vermittelt meist kleinere Aufträge an unabhängige Selbstständige, Freiberufler*innen oder freie Dienstnehmer*innen. Das sind zum Beispiel Transportdienstleistungen, Essenzustellungen, Nachhilfeunterricht übers Internet, Grafikdesign oder Reinigungstätigkeiten. Gig-Worker*innen erhalten die Arbeitsaufträge über die Plattformen, kommen aber je nach Setting auch direkt in Kontakt mit den Auftraggeber*innen bzw. eben den Kundinnen*Kunden. Da Gig-Worker*innen meist nur für eine Plattform und zu deren Bedingungen arbeiten, ist die Abhängigkeit groß. Durch die Arbeitsorganisation über Plattformen werden die bisher gültigen Regelungen und Normen der Arbeitswelt insbesondere durch international agierende Unternehmen infrage gestellt. Während die Plattformen große Flexibilität versprechen, geht es ihnen oft nur darum, auf neuem Weg Kosten und Risiken auf die Arbeitnehmer*innen umzuwälzen. Auch Österreich ist keine Insel der Seligen. Bereits jeder fünfte Job in der EU ist ein Internetjob. Dass immer mehr Arbeit über Online-Plattformen abgewickelt wird, wirkt sich negativ auf die Einkommen und auf die soziale Sicherheit vor allem junger Menschen aus. Nur eine*r von hundert kann von einem Job bei einer Plattform leben.
Ein Problem ist, dass der Internetarbeitsmarkt Ein-Personen-Unternehmen (EPUs) fördert: Leistungen werden frei angeboten und gekauft. Mit geregelten Beschäftigungsverhältnissen und fixen Löhnen hat das nur in Ausnahmefällen zu tun. Die oftmals prekären Arbeits- und Lebensbedingungen von Plattformarbeiter*innen wie Essenslieferant*innen sind oft darauf zurückzuführen, dass viele Plattformbetreiber*innen sich nicht als Arbeitgeber*innen verstehen und die Position vertreten, Selbstständige wären für sie tätig. Da die Arbeitnehmer*innen aber oft nur einen*eine Auftraggeber*in haben und somit von diesem*dieser vollkommen abhängig sind, spricht man von Scheinselbstständigkeit. Sie arbeiten immer für denselben*dieselbe Dienstgeber*in, aber ohne angestellt zu sein. Wenn etwas schiefläuft, tragen sie das volle Risiko. Als Gewerkschaft akzeptieren wir es nicht, dass die Digitalisierung dazu genutzt wird, arbeits- und sozialrechtliche Standards durch Scheinselbstständigkeit zu umgehen. Besonders wichtig ist deshalb die Einordnung dieser neuen Arbeitsverhältnisse, etwa ob es sich tatsächlich um selbstständige Tätigkeiten handelt.
Das kann weitreichende Folgen für die Rechte der Arbeitnehmer*innen, ihre kollektiven Möglichkeiten der Selbstorganisation sowie ihre soziale Absicherung haben. Das zeigt sich beispielsweise rund um die Debatte des Kollektivvertrags für Fahrradbotinnen*boten. Die Sozialpartner*innen hatten sich 2019 auf den weltweit ersten Kollektivvertrag für Fahrradzusteller*innen geeinigt, der neben einem Basislohn auch einen Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld beinhaltet. Ein Kollektivvertrag gilt grundsätzlich aber nur für Zusteller*innen, die beim Unternehmen tatsächlich angestellt sind – nicht für freie Dienstnehmer*innen. Bei mjam sind rund 95 Prozent der Fahrradbotinnen*boten als freie Dienstnehmer*innen beschäftigt und können somit weder in den KV eingebunden noch vom Betriebsrat vertreten werden. Der Chef der Bestellplattform, Arthur Schreiber, meinte 2021 auf das Problem angesprochen, dass eine Anstellung aller Fahrradbotinnen*boten der Tod der Branche sei. Bei konkurrierenden Unternehmen haben die Beschäftigten jedoch ein Anstellungsverhältnis nach dem Kollektivvertrag für Fahrradzusteller*innen, und diese Unternehmen gehen daran definitiv nicht zugrunde.
Ein anderes Problem im Zusammenhang mit Digitalisierung ergab sich 2019 bei Lieferando, als das Unternehmen behauptete, keinen Betrieb in Österreich zu haben. Hintergrund war der Versuch, dort einen Betriebsrat zu gründen. Das Argument des Unternehmens war, dass es sich bei der Niederlassung in Wien um eine unselbstständige Zweigniederlassung handle, denn das Herzstück des Unternehmens sei die Software, mit der man über die Website oder die App bestellen könne. Das Programm wird von der IT-Abteilung in Deutschland aus betreut und von dort aus gewartet. Die Server stehen in Irland. Da es in Österreich keine lokale IT-Infrastruktur gebe, existiere auch kein Betrieb in Wien und somit kein Recht auf einen Betriebsrat.
Das sind nur zwei Beispiele, wie verschiedene Unternehmen versuchen, mittels Digitalisierung arbeits- und sozialrechtliche Standards zu umgehen. Es gibt davon unzählige weitere. Wir müssen deshalb den Missbrauch und die Unterwanderung der Rechte der Arbeitnehmer*innen in der Zukunft verhindern und klare Regeln und Gesetze auch in der digitalen Arbeitswelt schaffen.
1.2 Was sich ändern muss
Europaweit haben inzwischen Dutzende Gerichtsurteilen im Sinne der Arbeitnehmer*innen bzw. Gewerkschaften gezeigten, dass ortsgebundene Plattformarbeit wie Lieferdienste in Richtung eines Arbeitsverhältnisses geht. Damit scheint sich die Frage zu klären, ob es sich tatsächlich um eine neue Form der Arbeit handelt oder sich eben nur die Mittel verändert haben.
Momentan ist es in Österreich die Aufgabe der Arbeitenden, ihren Arbeitnehmer*innen-Status nachzuweisen, und nicht die Aufgabe der Arbeitgeber*innen, nachzuweisen, dass es sich um kein Beschäftigten-Verhältnis handelt. Insbesondere in der Plattformwirtschaft ist das für Arbeitende sehr schwierig, da die Betroffenen keinen Einblick in die tatsächliche Arbeitsorganisation haben. Es wurde schon in der Vergangenheit vorgeschlagen – ähnlich einer Lösung in Kalifornien –, eine gesetzliche Vermutung für ein Arbeitsverhältnis zur Plattform aufzustellen. Es läge dann an der Plattform, zu beweisen, dass kein Arbeitsverhältnis vorliegt oder dass jemand anderes Vertragspartner*in ist.
Das würde es Betroffenen massiv erleichtern, ihren Arbeitnehmer*innen-Status einzuklagen und es auch weniger attraktiv erscheinen lassen, Personen in die Scheinselbstständigkeit zu drängen. Der ÖGB fordert daher schon seit geraumer Zeit eine Beweislastumkehr. Das würde bedeuten, dass alle Personen, die Tätigkeiten für Uber, Lieferando, mjam oder ähnliche Unternehmen erledigen, automatisch Angestellte sind. Treffen die Fakten eines Arbeitsverhältnisses nicht zu, müssen die Unternehmen das selbst beweisen. Dadurch kann und soll Scheinselbstständigkeit wirksam bekämpft und eingedämmt werden.
Darüber hinaus verlangt der ÖGB, dass für freie Dienstnehmer*innen alle Bestimmungen des Arbeitsrechts, des Kollektivvertrags und der Betriebsvereinbarungen gelten! Sie dürfen nicht mehr schlechter entlohnt werden, als es vergleichbare Kollektivverträge für klassische Arbeitsverhältnisse festsetzen. Als es Anfang 2020 zu einer großen Razzia im Amazon-Verteillager bei Wien kam, gab es Dutzende Strafen – aber nicht für den Online-Riesen, sondern für seine Subunternehmen. Der ÖGB fordert deswegen eine Auftraggeber*innenhaftung, um Konzerne im Kampf gegen Lohndumping in die Pflicht nehmen zu können. Das Verteilzentrum lohnt sich für Amazon nur deswegen, weil mit der Verteilung und Zustellung fast ausschließlich Subfirmen beschäftigt sind: Ein-Personen-Unternehmen, die oft wiederum Mitarbeiter*innen beschäftigen, die oft das Vielfache der Stunden arbeiten, für die sie angemeldet sind, und dafür einen sehr geringen Lohn erhalten. Mit einer Auftraggeber*innenhaftung, wie es sie für die Bauwirtschaft bereits gibt, wäre es möglich, dass das Generalunternehmen beziehungsweise der*die Auftraggeber*in bei der Erbringung von Leistungen für das Entgelt und für die Abgaben aus Arbeitsverhältnissen von Subunternehmen haftet.
Um Verbesserungen für Plattformbeschäftigte, im Speziellen für Essenslieferant*innen zu erhalten, sind wir mit dem RidersCollective einen neuen Weg in Österreich gegangen. Das RidersCollective ist eine Initiative, die zwischen Lieferkurier*innen und Arbeiter*innengewerkschaften arbeitet und versucht, die Fahrer*innen über ihre Rechte zu informieren und Solidarität zwischen ihnen aufzubauen, unabhängig davon, für welches Lieferunternehmen sie arbeiten und welchen Arbeitsvertrag sie haben. Ziel ist es, als Gewerkschaft sichtbar und greifbar zu sein für eine Gruppe von Arbeitnehmer*innen, die oftmals noch keinen Kontakt zu Gewerkschaften hatten, und über ihre kollektiven Möglichkeiten und rechtlichen Rahmenbedingungen zu informieren.
Das RidersCollective dient als Anlaufstelle und Sprachrohr für Botinnen*Boten gegenüber der Gewerkschaft und der breiten Öffentlichkeit, soll aber auch Aufklärungsarbeit leisten – im digitalen Raum, bei Konsument*innen sowie mit Basisarbeit und durch Unterstützung der Betriebsrätinnen*Betriebsräte. Durch eine breite Vernetzung kann ein inklusiver Überblick über die Arbeitssituation der Botinnen*Boten in Österreich gegeben und über Rechte, Möglichkeiten und Hindernisse aufgeklärt werden.
Digitalisierung ist eines der großen Themen unserer Zeit. Es birgt große Chancen in Bezug auf mehr Teilnahmemöglichkeiten, neue Diskussionsformen und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Es besteht aber auch die Gefahr der Entfremdung, der Dauerüberwachung und der Verschiebung von Machtstrukturen. Die Befürchtung, die Digitalisierung würde zu massiven Arbeitsplatzverlusten führen, erwies sich als unbegründet. In manchen Branchen wird es zu einem großen Rückgang von Beschäftigung kommen, andere Bereiche und Tätigkeitsfelder werden jedoch wachsen. Deshalb wird es zu einer Verschiebung bei Branchengrößen, -bedeutung und -potenzial kommen. Kurz gesagt: Wir stehen inmitten einer großen Transformation. Wenn von Problemen der Digitalisierung gesprochen wird, geht es oft nicht um Probleme mit der Digitalisierung selbst. Es geht meist um die Rahmenbedingungen, also darum, wie mit dem technologischen Fortschritt umgegangen wird. Die Frage ist also: Wird Digitalisierung als Ausrede genommen, um Gewinnmaximierung durch Entlassung von Mitarbeiter*innen zu betreiben, und werden neue Arbeits- und Konzernstrukturen geschaffen, um betriebliche Mitbestimmung zu unterbinden? Oder wird durch die Digitalisierung Menschen eine Stimme gegeben, die in den vorherigen Strukturen keine Stimme hatten, werden Wissen, Information und Beratung für eine immer größer werdende Gruppe bereitgestellt, und werden soziales Wachstum, eine gute Work-Life-Balance und verbesserte Arbeitsbedingungen vorangetrieben? Digitalisierung bietet die Chance, dass das Arbeitsleben, die Demokratie und die Gemeinschaft gestaltet und zum Besseren gewendet werden können. Unser Anspruch als Gewerkschaft ist es dabei, dass Technologie immer im Dienst des Menschen stehen muss und nicht umgekehrt. Es geht also darum, nicht vor der Veränderung zurückzuschrecken, sondern sie aktiv zu betreiben, um die Lebensbedingungen aller zu verbessen. Als Gewerkschaft kämpfen wir dafür, dass die Vorteile der Digitalisierung nicht einer kleinen, privilegierten Gruppe zugutekommen, sondern dass am Ende der Transformation ein gutes Leben für alle steht.
2. Just Transition
Die Auswirkungen der weltweiten Klimakrise werden immer spürbarer. Wir sind die erste Generation, die die drastischen Auswirkungen der Klimakrise am eigenen Leib erfährt, und gleichzeitig die letzte, die noch etwas dagegen unternehmen kann. Wir als Gewerkschaft sehen die dringende Notwendigkeit zu handeln! Die Abkehr von fossilen Brennstoffen, die sogenannte Dekarbonisierung, wird das wirtschaftliche Gefüge und damit verbunden die Arbeits- und Lebenssituation der Arbeitnehmer*innen in Österreich massiv verändern. Wird dieser Prozess nicht flankierend begleitet, werden die Gewinne und Vorteile sowie die Kosten ungleich verteilt, und es wird auf dem Arbeitsmarkt zu massiven Verwerfungen kommen. Als Österreichischer Gewerkschaftsbund möchten wir diese anstehende Entwicklung nach dem Motto „Change by Design, not by Desaster“ als aktiven Prozess unter Einbeziehung aller Betroffenen einfordern.
Als Gewerkschaft ist es für uns essenziell, dass der Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft sozial gerecht erfolgt. Erforderlich ist ein Zusammenspiel unterschiedlicher Politikbereiche wie Industrie-, Technologie-, Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Sozial- und Bildungspolitik. Vor allem müssen immer auch Verteilungsfragen mitberücksichtigt werden.
Die Klimakrise ist demnach nicht nur eine ökologische Frage, sondern auch eine Klassenfrage, zudem betrifft sie aber auch die Geschlechter ungleich. Frauen verursachen im Durchschnitt weniger CO2, sind aber stärker von den Auswirkungen betroffen. Klimapolitische Maßnahmen müssen daher auch immer die Lebenssituationen und Interessen von Menschen aller Geschlechter bei allen Entscheidungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen berücksichtigen. Es wäre ein Fehler, wenn der Transformationsprozess alte Geschlechterstrukturen erneut einzementiert. Wir müssen dafür in die Offensive gehen und Konzepte und Lösungen erarbeiten, die in eine positive Zukunft gerichtet sind. Die Aufgabe der Gewerkschaft ist es dabei, dass jene Schritte, die notwendig sind, von den richtigen gewerkschaftspolitischen Maßnahmen begleitet werden. Dabei ist es nicht unsere Aufgabe, die bessere Klima- und Energiepolitik zu planen, sondern dafür Sorge zu tragen, dass diese im Sinne der Beschäftigten stattfindet. Unsere Vorschläge haben wir im 50 Seiten starken ÖGB-Positionspapier Klimapolitik aus ArbeitnehmerInnen-Perspektive detailliert vorgestellt. Als Gewerkschaftsbewegung werden wir nicht müde, uns dafür stark zu machen, dass die soziale Dimension insbesondere auf der betrieblichen Ebene bei jeder geplanten Maßnahme mitgedacht wird. Das ist auch erforderlich, um die Akzeptanz für notwendige Veränderungen nicht aufs Spiel zu setzen. Für diesen Prozess hat sich vor einigen Jahren der Begriff „Just Transition“, also „gerechter Übergang“, etabliert.
2.1 Wir brauchen gute Jobs, um den Wandeln zu schaffen
Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Arbeit, gesellschaftlicher Organisation und Klimaauswirkungen ist es wenig überraschend, dass Arbeitsmarktpolitik ein wichtiger Hebel ist, um die Auswirkungen der Klimakrise nicht nur abzufedern, sondern Klimapolitik aktiv mitzugestalten. Für die Herstellung von Schuhen benötigt man Kautschuk, für Elektrogräte braucht es Kupfer, der Häuserbau nimmt Unmengen an Sand und anderen Materialien in Anspruch, und die meisten Produktionsprozesse beruhen auf der Nutzung fossiler Energien als Inputfaktor. Gleichzeitig führen produktive Tätigkeiten fast immer zu schädlichen Nebenprodukten und Verschmutzung, sei es durch Abfall oder Emissionen.
Für die Industriestaaten wie Österreich bedeutet die Erreichung der Klimaziele daher eine vollständige Abkehr von fossilen Brennstoffen (Dekarbonisierung) sowie ein Ende der grenzenlosen Ausbeutung der Ressourcen unseres Planeten – eine Mammutaufgabe, die einen Kraftakt erfordert. Effektives und unmittelbares Handeln ist gefordert, das nicht nur Symptombehandlung betreibt, sondern an den Ursachen ansetzt. Je mehr wir heute zögern, umso größer muss die Anpassung sein, die wir morgen erbringen müssen, mit gleichzeitig steigender Ungewissheit über die Folgen der Klimakrise durch Rückkoppelungs- und Kaskadeneffekte oder Überschreiten von Kipppunkten. Der Prozess muss strategisch geplant und von den Gewerkschaften mitgestaltet werden, damit die Arbeitnehmer*innen nicht auf der Strecke bleiben und neue Chancen in der Arbeitswelt in ihrem Sinne mitgestaltet werden.
Viele Bereiche wie beispielsweise der Energiesektor befinden sich in einer grundlegenden Transformation. Hierfür braucht es Fachkräfte – die Energiewende braucht Fachkräfte. In manchen Branchen herrscht bereits akuter Mangel. Die Menschen müssen rasch ausgebildet werden und während ihrer Tätigkeit für umfassende und zukunftsweisende Berufsbilder qualifiziert werden.
Arbeitsmarkpolitische Lösungen für die von der Veränderung Betroffenen sind beispielsweise Qualifizierungsprogramme für Arbeitnehmer*innen. Zentral für den ÖGB ist, dass die Qualität der Arbeitsplätze, die durch den geförderten Ausbau erneuerbarer Energie entstehen, an den branchenüblichen arbeits- und sozialrechtlichen Standards gemessen werden. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass grüne Jobs auch gute Jobs sind.
Eine faire, verursachungsgerechte Kostenverteilung der Finanzierung der Dekarbonisierung des Energiesystems ist aber Grundvoraussetzung für deren gesellschaftliche Akzeptanz. Die Dekarbonisierung darf nicht zu Deindustrialisierung führen, allerdings brauchen wir auch einen selbstbewussten und strategischen Wandel hin zu einem zukunftsfähigen und nachhaltigen Industriestandort, weg vom Gängelband der großen Konzerne und ihrer Willkür.
Deswegen ist es wesentlich, dass frühzeitig wirtschaftspolitisch agiert wird, damit wir als Republik Österreich und auch auf europäischer Ebene weiterhin in strategisch wichtige Wertschöpfungsketten eingebunden sind und die Potenziale des grünen Strukturwandels nicht verpassen. Übernimmt die Regierung keine aktive Rolle, bleibt sie auf die Abfederung negativer Konzernentscheidungen beschränkt, während sämtliche Kosten willkürlicher Unternehmensentscheidungen auf die öffentliche Hand abgewälzt werden. Dazu gehört auch, dass (Industrie-)Unternehmen, die mit staatlichen Subventionen unterstützt werden, sich zur Standort- und Beschäftigungssicherung, zur Ausbildung von Jugendlichen und zur Mitbestimmung der Beschäftigten im gesamten Prozess verpflichten müssen.
2.2 Den Arbeitsmarkt klimafit gestalten
Mit der Umstellung unserer Produktion und unseres Konsums von fossilen auf erneuerbare Energie ergibt sich zwangsläufig ein Veränderungsdruck auf die Arbeitsmärkte, die Unternehmen und vor allem auch die Beschäftigten. Der Wandel erzeugt dabei einerseits Jobverluste, bietet aber andererseits auch enorme Chancen für qualitativ hochwertige Beschäftigung in einer nachhaltigen Wirtschaft. Österreich hat im grünen Strukturwandel eine gute Ausgangsbasis: einen stabilen Sozial- und Wohlfahrtsstaat, innovative Unternehmen mit hoch qualifizierten und hochproduktiven Arbeitnehmer*innen und eine moderne und gut ausgebaute Infrastruktur. In der Gestaltung eines sozial gerechten Übergangs muss es darum gehen, die Chancen des Strukturwandels für Wertschöpfung und Beschäftigung auf Basis der guten Ausgangslage des österreichischen Wirtschaftsstandorts auszuschöpfen und zu nutzen. Gleichzeitig müssen jedoch die Beschäftigten, die negativ vom Strukturwandel betroffen sein werden, soziale Absicherung und eine echte neue Chance bekommen.
Der Aus- und Weiterbildung bzw. auch dem Erwerb neuer Qualifikationen in den Betrieben während einer aufrechten Beschäftigung wird in den kommenden Jahren eine zentrale Rolle zukommen. Wir wissen, dass sich die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt verändern werden, und wir wissen, dass der Staat aktiv Jobs schaffen muss. Für jene Arbeitnehmer*innen, die von Veränderungsprozessen negativ betroffen sind, muss es eine staatliche Garantie in Hinblick auf ihre Weiterbeschäftigung geben. Das bedeutet für uns, dass jedem*jeder betroffenen Arbeitnehmer*in zumindest ein gleichwertiger Job garantiert wird, insbesondere in Hinblick auf Qualifikation, Arbeitsbedingungen und Bezahlung. Um Beschäftigung zu erhalten, gibt es verschiedene Möglichkeiten, beispielsweise betriebliche Umstrukturierungen hin zu einer zukunftsfitten Produktion, aktive Unterstützung zur Umsattelung in einen anderen Job und die Schaffung qualitativ hochwertiger neuer Arbeitsplätze. Diese Jobgarantie soll verschiedene arbeitsmarktpolitische bzw. Qualifizierungsinstrumente bündeln und das Prinzip, dass niemand zurückgelassen wird, verwirklichen.
Klimapolitik und der damit verbundene grüne Strukturwandel können bei richtiger Umsetzung enorme Potenziale für (regionale) Beschäftigung und Wertschöpfung beinhalten. Durch die strukturelle Veränderung werden nicht nur herkömmliche Jobs in „überholten“ Branchen wegfallen, es wird in anderen Bereichen neue Möglichkeiten und steigenden Arbeitskräftebedarf geben, wie z. B. im Sektor der erneuerbaren Energien, der Wärme- und Kälteerzeugung, der thermischen Sanierung, der Energieeffizienz, der Netzinfrastruktur sowie der Elektromobilität, der Kreislaufwirtschaft und im Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Diese Chancen gilt es im Sinne qualitativ hochwertiger Jobs entsprechend zu nutzen.
Es gibt derzeit noch keine Konzepte, wie eine Überleitung von schrumpfenden Branchen in neue Branchen funktionieren kann, ohne Gefahr zu laufen, z. B. auf die hohen arbeitsrechtlichen Standards der Industrie verzichten zu müssen (beispielsweise wäre der Wechsel in die Montage von Solaranlagen zwangsläufig mit einem Kollektivvertragswechsel und damit empfindlichen Einkommenseinbußen verbunden – das verstehen wir nicht unter fairer Transformation!).
Es gilt also zum einen, die Arbeitnehmer*innen mittels der oben skizzierten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen bestmöglich zu unterstützen. Zum anderen ist dabei jedoch die Qualität der Arbeitsplätze, insbesondere in Hinblick auf Qualifikation, Arbeitsbedingungen und Entgelt, aufrechtzuerhalten. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es durch Verschiebungen in andere Branchen und Wirtschaftsfelder nicht zu Eingriffen in gewerkschaftliche Kernbereiche kommt, wie etwa Organisationsgrad in Betrieben, Betriebsräte und Kollektivvertragsgeltung.
2.3 Die Arbeitsbedingungen an die aktuellen Herausforderungen anpassen
Der Klimawandel verändert aber nicht nur ganze Branchen und Industrien, zerstört und schafft Jobs, sondern hat auch gravierende Auswirkungen auf (weiterhin) bestehende Jobs. Bei steigenden Temperaturen im Sommer und Rekordhitzephasen beispielsweise sind Arbeitnehmer*innen mit der Hitze am Arbeitsplatz direkt von der Klimakrise betroffen. Entsprechend braucht es gegensteuernde Maßnahmen am Arbeitsplatz, sowohl in Arbeitsräumen als auch beim Arbeiten im Freien. Im Bereich des Arbeitnehmer*innenschutzes fordert der ÖGB beispielsweise, dass die Arbeitgeber*innen ab einer Raumtemperatur von über 25 Grad verpflichtet werden müssen, geeignete Maßnahmen zur Hitzereduktion zu setzen. Für ungeschütztes Arbeiten im Freien braucht es unter anderem bei Temperaturen über 32 Grad aus Gesundheitsschutzgründen ein verpflichtendes Einstellen der Arbeit und Maßnahmen gegen die langfristigen Folgen von UV-Strahlung. Das beinhaltet auch die Aktualisierung und Erweiterung der Liste der Berufskrankheiten, beispielsweise um weißen Hautkrebs.
Ein Beispiel dafür, wie Veränderungen im Rahmen des Klimawandels und der Digitalisierung aus Arbeiter*innensicht mitgestaltet werden können, zeigt die „Hitze.App“. Bisher ist es so, dass Arbeitgeber*innen ihren Mitarbeiter*innen ab 32,5 Grad im Baubereich freigeben können. Ob und wann der Grenzwert erreicht ist, richtet sich nach den Messwerten der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG). Bisher hatten dazu nur Arbeitgeber*innen Zugang, was große Unsicherheit und Diskussionen unter den Beschäftigten verursachte. Mithilfe des Digitalisierungsfonds der AK hat die Gewerkschaft Bau-Holz eine „Hitze.App“ entwickelt. Über das Handy wird nun eine Echtzeit-Schnittstelle zu der nächstgelegenen Messstelle der ZAMG hergestellt.
Sobald die 32,5 Grad offiziell erreicht sind, wird ein Warnsignal auf die App übermittelt. Damit wissen alle Beschäftigten, ob die Möglichkeit auf Hitzefrei besteht, und es ist gewährleistet, dass auch die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für Schlechtwetterentschädigungen erfüllt sind. Das heißt, den Arbeitnehmer*innen steht eine Entgeltfortzahlung von 60 Prozent zu. Die Kosten werden den Arbeitgeber*innen vollständig von der BUAK refundiert.
In den Wintermonaten stellt sich die App von einer „Hitze.App“ auf eine „Kälte.App“ um und informiert die Bauarbeiter*innen, sobald minus 10 Grad erreicht werden. Die technischen Voraussetzungen für ein Reagieren auf Hitzetage wurden geschaffen, aber nicht alle Firmen nutzen diese Regelung. Es braucht daher einen Rechtsanspruch auf Hitzefrei, besonders im Hinblick darauf, dass der letzte Sommer trotz der Hitzerekorde wohl der kälteste Sommer der Zukunft gewesen ist.
Zusammenfassend wollen wir als Gewerkschaft nicht bloße Verwalterin einer Krise oder auch einer ökologischen Transformation sein, sondern wir sehen die absolute Notwendigkeit, dass dieser Prozess gemeinsam demokratisch gestaltet wird, von der europäischen Ebene bis zur betrieblichen und kommunalen Ebene. Seite an Seite mit der Gewerkschaft ist es möglich: ein gutes Leben für alle.
3. Der Arbeitsmarkt muss weiblich werden
Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist in den letzten Jahren zwar kontinuierlich von 65,7 Prozent (2010) auf 68,3 Prozent (2020) gestiegen, dennoch sind sie auf dem Arbeitsmarkt strukturell benachteiligt. Fast die Hälfte der erwerbstätigen Frauen arbeitet Teilzeit – meist aufgrund traditioneller Rollenklischees, Kinderbetreuungspflichten oder der Pflege von Angehörigen. Die Erwerbsquote der Männer ist im gleichen Zeitraum von 76,0 Prozent auf 76,5 Prozent gestiegen. Der Anteil der erwerbstätigen Männer ist also weniger stark gestiegen als jener der Frauen, befindet sich aber auf einem deutlichen höheren Niveau. Bei der Teilzeitquote ist der Unterschied noch viel gravierender. Im Jahr 2020 waren 72,8 Prozent der Frauen mit Kindern unter 15 Jahren in Teilzeit erwerbstätig, von den Vätern mit Kindern im gleichen Alter waren es nur 6,9 Prozent. Der große Teilzeitanteil bei Frauen ist die Folge einer größeren Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Kindern in Kombination mit der ungleichen Verteilung von unbezahlter (Care-) Arbeit zwischen den Geschlechtern. Die letzte Zeitverwendungsstudie aus dem Jahr 2008/2009 hat gezeigt, dass Frauen damals täglich im Schnitt 3 Stunden und 42 Minuten für Hausarbeit aufbrachten, Männer hingegen leisteten im Schnitt 1 Stunde und 58 Minuten Hausarbeit. Das ist ein Unterschied von 1 Stunde und 44 Minuten täglich. Rechnet man alle unbezahlten Tätigkeiten zusammen (Kochen, Waschen, Bügeln, Kinderbetreuungen, Reparaturen, Pflege etc.), übersteigt der Anteil der unbezahlten Leistungen den der Erwerbsarbeit. Zwei Drittel der unbezahlten Arbeit erledigten Frauen. Bezahlte Erwerbsarbeit hingegen wurde zu 61 Prozent von Männern übernommen. In Summe arbeiteten Frauen somit deutlich länger als Männer, verdienten dabei aber weniger. Ob und in welche Richtung es Veränderungen bei der Aufteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit gibt, wird die neue Zeitverwendungsstudie zeigen, deren Ergebnisse noch dieses Jahr vorliegen sollten.
3.1 Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
Die unterschiedliche Aufteilung der unbezahlten Arbeit hat verschiedene Ursachen und eine Vielzahl von negativen Auswirkungen auf Frauen. Gerade mit der Geburt des (ersten) Kindes verändert sich die Aufteilung zwischen Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit. Männer unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit in der Regel nur kurz oder gar nicht, während Frauen in 85 Prozent der Partnerschaften alleine das Kinderbetreuungsgeld beziehen. An die Karenz anschließend ist in Österreich vor allem das Eineinhalb-Verdiener-Modell verbreitet, bei dem vorwiegend die Männer eine Vollzeitbeschäftigung und die Frauen eine Teilzeitbeschäftigung ausüben. Will man es anders machen, ist das oft nur mit sehr viel Mühe, sozialen Rechtfertigungsmarathons und finanziellen Einbußen realisierbar, nicht zuletzt aufgrund des großen Einkommensunterschieds zwischen Frauen und Männern. Frauen haben in Österreich 2022 im Schnitt rund 17,1 Prozent weniger verdient, da scheint es für viele Paare einfacher, dass die Frauen die Betreuungsarbeit der Kinder hauptsächlich übernehmen – ein Teufelskreis, denn dadurch leiden die Karriere und das Einkommen vieler Frauen dauerhaft. Selbst Jahre nach der Geburt kann man in den Daten den Einkommens- und Karriereknick sehen. Auswirkungen hat dies auch später auf die Pensionen. 2022 erhielten Frauen um 41 Prozent weniger Pension als Männer. Es ist also kein Wunder, dass 67 Prozent der von Altersarmut betroffenen Personen Frauen sind. Der Gender-Pay-Gap beschreibt den Unterschied zwischen dem durchschnittlichenBrutto-Stundenlohn von Männern und Frauen. In Österreich betrug er im letzten Jahr 17,1 Prozent. Österreich ist damit seit Jahren Schlusslicht im EU-Raum.
2020 machte dieser Unterschied in Österreich 18,9 Prozent aus, während der EU-Schnitt bei 13 Prozent lag. Im Jahreseinkommen macht dies einen Unterschied von 9.420 Euro weniger für Frauen.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit fordern Frauen seit Jahrzehnten. Die Forderung sollte also eigentlich längst der Vergangenheit angehören und nicht in einen Sammelband über die Zukunft der Arbeit stehen, und dennoch müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie wir dieses Ziel bald erreichen, und entsprechende Maßnahmen setzen. Es reicht nicht, nur Einkommensberichte zu erstellen, vielmehr müssen konkrete Schritte zur Beseitigung der Lohnschere abgeleitet werden wie beispielsweise ein Frauenförderplan und vollständige innerbetriebliche Lohntransparenz, um Benachteiligungen sichtbar zu machen.
3.2 Arbeit ist nur möglich bei entsprechender Kinderbetreuung
Der Einkommensunterschied zwischen Frauen und Männer variiert in Österreich stark. Während der Gender-Pay-Gap in Wien rund 12 Prozent beträgt, liegt er in Tirol bei 20,5 Prozent und in Vorarlberg bei 24,7 Prozent. Ein Grund hierfür ist die sehr uneinheitliche und im ländlichen Raum eingeschränkte institutionelle Betreuungsmöglichkeit von Kindern. 2019 waren beispielsweise Kindergärten in Wien durchschnittlich 4,6 Tage geschlossen, in Tirol hingegen waren es durchschnittlich 37,8 Tage – das übersteigt den Jahresurlaub von Berufstätigen bei Weitem. Auch die Öffnungszeiten weichen stark voneinander ab. Während in Wien 2021 gut 30 Prozent der Kindertagesheime ab 6 Uhr offen haben, ist es in Tirol nur eines der 896 Kindertagesheime, und in Niederösterreich sind es 14 von 1.592.
Ein Faktor für die unterschiedliche Positionierung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt ist, dass Frauen einen erheblichen Teil der Kinderbetreuung (und Pflege) übernehmen und dass, wenn sie ihre Arbeitszeit ausweiten wollen, sie keine angemessene Betreuung für ihre Kinder in ausreichendem Maße finden. Es braucht daher einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Kinderbetreuung ab dem ersten Geburtstag des Kindes, aber auch entsprechende Angebote in der Langzeitpflege. Diese Leistungen müssen flächendeckend verfügbar, leistbar und auf die Bedürfnisse und Bedarfe der unterstützten Menschen abgestimmt sein. Kontinuität muss sichergestellt und ein angemessener Umfang gewährleistet werden, damit Frauen ausreichend Zeit haben, um einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können.
3.3 Das Familienarbeitszeit-Modell
Ein gerechteres Arbeitsumfeld kann aber nicht geschaffen werden, wenn der Fokus nur darauf liegt, wie Frauen eine Vereinbarkeit von Familie und Arbeit ermöglicht wird. Familien müssen als Einheit betrachtet werden, wo alle Beteiligten Teil der Lösung sind. Der ÖGB und die AK haben deshalb ein Familienarbeitszeit-Modell erarbeitet, das zu einer gerechten Verteilung von Arbeit führt. Unterm Strich bedeutet es mehr Zeit für die Väter und mehr Geld für die Mütter. Ziel ist es, dass beide Elternteile ungefähr gleich viel Zeit für die Kinderbetreuung und für die Erwerbsarbeit zur Verfügung haben.
Das Modell sieht Folgendes vor: Wenn beide Elternteile nach der Karenz ihre Arbeitszeit auf 28 bis 32 Wochenstunden reduzieren bzw. erhöhen und dies für mindestens vier Monate, dann soll jeder Elternteil pro Monat 250 Euro steuerfrei bis maximal zum vierten Geburtstag des Kindes erhalten. Das neue Modell lässt sich mit der Elternteilzeit, wie sie jetzt schon viele Mütter und einige Väter in Anspruch nehmen, kombinieren, ist aber nicht damit zu verwechseln, sondern wäre ein ergänzendes Angebot. Das Modell könnte wie die Kinder- bzw. Familienbeihilfe über den Familienlastenausgleichsfonds (FLAF) finanziert werden. Die Sozialversicherungsbeiträge wären wie bei der Altersteilzeit von der Normalarbeitszeit zu berechnen und würden dem*der Dienstgeber*in vom AMS teilweise ersetzt werden.
3.4 Frauen als Technikerinnen, als Aufsichtsrätinnen und als Bürgermeisterinnen
Ein Teil des oben beschriebenen Gender-Pay-Gaps lässt sich durch die hohe Teilzeitquote bei Frauen „erklären“. Ein Teil des Lohnunterschieds rührt daher, dass Frauen – wie beschrieben – den größten Teil der unbezahlten Arbeit leisten, also Kinderbetreuung, Pflege der (Schwieger-)Eltern, Hausarbeit etc., während Männer mehr Erwerbsarbeit übernehmen. Ein Teil des Gender-Pay-Gaps rührt also daher, dass Frauen in Teilzeit erwerbstätig sind und einen Großteil ihrer Arbeit nicht bezahlt bekommen. Ein anderer Grund für den großen Gender-Pay-Gap ist, dass in Berufen, in denen vermehrt Frauen arbeiten, ein geringerer Lohn bezahlt wird als in Berufen, in denen überwiegend Männer arbeiten. Eine Friseurin verdient beispielsweise ausgelernt im ersten Berufsjahr im Schnitt rund 22.000 Euro brutto im Jahr und 25.000 Euro ab dem sechsten Berufsjahr, eine Krankenpflegerin 29.000 Euro im ersten Berufsjahr nach abgeschlossener Ausbildung. Ein ausgebildeter Mechatroniker kann mit einem Einstiegsgehalt von bis zu 32.000 Euro im Jahr rechnen, und bei der voestalpine als Werkstofftechniker sind es rund 38.000 Euro.
Gründe für das unterschiedliche Gehalt in frauendominierten und männerdominierten Branchen gibt es viele: Einerseits sind die sogenannten Frauenberufe oft soziale Berufe, bei denen argumentiert wird, dass deren Ausübung aufgrund intrinsischer Motivation stattfinden soll und nicht des Geldes wegen.
Und ehrlicherweise zahlt man Frauen auch oft einfach weniger als ihren männlichen Kollegen. Mag sein, dass viele unbewusst meinen, dass Frauen nicht die Ernährerinnen ihrer Familien seien, ihre Arbeit schlicht für weniger wert halten oder es einfach machen, weil sie es können. Tatsache ist jedoch, dass rund 10 Prozent des Lohnunterschieds der Frauen weder darauf zurückzuführen sind, dass Frauen aufgrund der hohen Belastung durch Care-Arbeit oder mangelnder Kinderbetreuungseinrichtungen oft in Teilzeit erwerbstätig sind, noch darauf, dass sie überwiegend in sozialen Berufen tätig sind oder dass sie weniger Chef-Positionen innehaben. Rund 10 Prozent des Gehaltsunterschieds können durch nichts erklärt werden, weshalb nur noch Diskriminierung von Frauen als Erklärung überbleibt. Dass Diskriminierung überhaupt möglich ist, liegt auch an der fehlender Lohntransparenz. Ein Instrument, das Licht ins Dunkel bringen soll, ist der Einkommensbericht. Betriebe mit über 150 Beschäftigten müssen diesen alle zwei Jahre erstellen. Das war ein guter erster Schritt, aber nach nunmehr elf Jahren zeigt sich, dass es damit bei Weitem nicht getan ist. Bei der derzeitigen Regelung gibt es zu viele Ausnahmen: Kleinere Betriebe, Länder und Gemeinden müssen etwa keinen Einkommensbericht vorlegen.
Es gibt auch keinerlei Verbindlichkeiten, was mit den Erkenntnissen aus dem Einkommensbericht passieren soll, keinerlei Vorschriften, wie vorgegangen werden soll, wenn hier Einkommensunterschieden auffallen. Angebracht wäre hier eine Ergänzung um einen verpflichtenden Maßnahmenplan, wenn strukturelle und finanzielle Unterschiede im Unternehmen festgestellt werden. Abseits von allen Regeln wären wir als Arbeitnehmer*innen aber auch gut beraten, uns offen über unser Einkommen auszutauschen. Es stärkt uns, wenn wir über Geld reden und gemeinsam gegen Lohnungleichheit vorgehen.
Es braucht mehr Frauen in technischen Berufen und in Führungspositionen, in Aufsichtsräten, in Vorständen, in Ministerien, als Bürgermeisterinnen, als Gewerkschaftspräsidentinnen und als Bundeskanzlerinnen. Der Anteil der Frauen
an der Gesamtbevölkerung ist rund 50 Prozent. Der Frauenanteil in Aufsichtsräten betrug 2017 hingegen nur 16,1 Prozent. In börsennotierten Unternehmen ist der Anteil innerhalb weniger Jahre auf 35,1 Prozent angestiegen. In nicht börsennotierten Unternehmen ist er hingegen nur auf 18 Prozent angestiegen. Der große Unterschied liegt darin, dass für börsennotierte Unternehmen das 2017 beschlossene Gleichstellungsgesetz gilt, das eine gesetzliche Frauenquote von 30 Prozent vorschreibt. Im Nationalrat haben wir in der aktuellen Legislaturperiode so viele Frauen wie noch nie, nämlich 39 Prozent; im Bundesrat sind es mit 36,7 Prozent etwas weniger, also in beiden Fällen nur ein gutes Drittel.
Bei den Bürgermeister*innen sind es deutlich weniger, gerade mal 10 Prozent aller Bürgermeister*innen in Österreich sind Frauen. Dennoch ist das für Österreich ein Rekordwert. Eine Kanzlerin gab es bisher in Österreich nur eine: in der Übergangsregierung. Auf dem letzten Wahlzettel zur Bundespräsidentschaft stand trotz der Rekordlänge keine einzige Frau drauf.
Der Arbeitsmarkt muss weiblich werden. Wir schulden es den Frauen, mit aller Kraft für gleichen Lohn und gleiche Chancen zu kämpfen. Wir brauchen Frauenquoten, um Vorbilder für die nächsten Generationen zu schaffen und Frauen in die Positionen zu bekommen, wo sie die Macht haben, Dinge zu verändern. Wir müssen die Rahmenbedingungen ändern, indem wir Einkommenstransparenz in den Unternehmen, Kinderbetreuung, Kinderbildung und Pflegeangebote schaffen, und wir müssen moderne Arbeitszeitstandards etablieren. All das, damit es nicht mehr der einfachere Weg ist, Frauen die unbezahlte Arbeit umzuhängen.
4. Nicht leben, um zu arbeiten
Im Jahr 2016/2017 erhob eine Studie die Zahl derer, die Burnout-gefährdet oder von Burnout betroffen sind. Das erschreckende Ergebnis: Etwa 8 Prozent der Erwerbsbevölkerung in Österreich gelten als von Burnout betroffen – das ist ca. jede*r 12. Beschäftigte. Noch beunruhigender ist, dass rund 19 Prozent der Arbeitnehmer*innen sich zu dem Zeitpunkt in einem Frühstadium von Burnout befanden. Burnout ist keine Folge einer einmaligen starken oder extremen Belastung, sondern zeigt sich als aufbauende Reaktion auf längere Zeit andauernde oder sich immer wiederholende Belastungssituationen. Dabei spricht man von einem einschleichenden Prozess. Dazu passt, dass 2021 in Österreich 190 Millionen Überstunden geleistet wurden. Dazu kommt, dass dabei jede fünfte Überstunde unbezahlt war.
Die Zahl der Beschäftigten steigt in Österreich seit Jahrzehnten. Es werden Millionen an Überstunden geleistet, und gleichzeitig werden wir auch immer produktiver. Moderne Produktionsmaschinen nehmen Menschen schwere und gefährliche Arbeiten ab, die sie schneller und effizienter erledigen können. Ein E-Mail ist deutlich schneller am Zielort als ein Brief oder ein Paket mit Akten.
Für die Produktion einer bestimmten Menge von Gütern oder Dienstleistungen wird dadurch im Schnitt deutlich weniger Arbeitszeit benötigt. In Zahlen bedeutet das, dass die Produktivität (geleistete Wertschöpfung pro Arbeitsstunde) sich in Österreich seit 1950 versiebenfacht hat. Das schafft mehr Wohlstand.
Die Frage ist aber: Wer profitiert von diesem Wohlstandswachstum? Ein Teil der erhöhten Produktivität wurde in Form von höheren Löhnen der Beschäftigten abgegolten, aber die durchschnittliche Arbeitszeit ist in den letzten Jahrzehnten nicht gesunken – trotz der gestiegenen Produktivität.
4.1 Arbeitszeitverkürzung
Zwischen 1950 und 1975 wurde die Arbeitszeit noch schrittweise verkürzt, seitdem steigt die durchschnittliche Arbeitszeit jedoch wieder. Die Beschäftigten in Österreich sehnen sich aber danach, weniger zu arbeiten. Noch nie haben so viele arbeitende Menschen gesagt, dass sie sich mehr Freizeit und weniger Zeit im Job wünschen, nämlich jede*r zweite Beschäftigte in Österreich. Der Arbeitsklima-Index der Arbeiterkammer kommt regelmäßig zu ähnlichen Ergebnissen: Wer mehr als 30 Stunden die Woche arbeitet, möchte seine Zeit im Job um durchschnittlich drei Stunden reduzieren. Wer weniger als 30 Stunden arbeitet, möchte eher aufstocken. Im Gegensatz dazu ist die letzte gesetzliche Arbeitszeitverkürzung aber schon 47 Jahre her.
Umsetzungen von Arbeitszeitverkürzungen dauerten schon immer lange. Am 1. Mai 1890 forderten rund 100.000 Demonstrant*innen in Wien die Einführung des 8-Stunden-Tages. Erst 29 Jahre später beschloss der Nationalrat das Achtstundentagsgesetz und die 48-Stunden-Woche. Beim dritten ÖGB-Kongress im Jahr 1955 beschlossen die Delegierten unter anderem die schrittweise Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden – natürlich bei vollem Lohnausgleich. Es gelang in einigen Kollektivverträgen, die Wochenarbeitszeit von 48 auf 45 Stunden zu verkürzen – auch wenn es dazu den einen oder anderen Streik brauchte. Die Wirtschaft fürchtete wieder einmal den „Ruin der österreichischen Industrie und den Verlust der internationalen Konkurrenzfähigkeit“. Keinen Streik, aber viel Sitzfleisch brauchte es, bis im Dezember 1958 der Generalkollektivvertrag zur Arbeitszeitverkürzung von 48 auf 45 Stunden – bei vollem Lohnausgleich – zwischen ÖGB und Bundeswirtschaftskammer unterzeichnet wurde. Ab 1. Februar 1959 arbeiteten 1,6 Millionen Menschen weniger und erhielten teilweise sogar noch zusätzliche Lohnerhöhungen. Im Mai 1969 startete die SPÖ ein Volksbegehren zur Einführung der 40-Stunden-Woche, und fast 890.000 Menschen unterschrieben es. Im September einigten sich die Sozialpartner auf eine etappenweise Verkürzung der Arbeitszeit bis 1975. Am 31. Dezember 1969 verabschiedete der Nationalrat das Arbeitszeitgesetz.
Seitdem gab es keine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung, die Gewerkschaften haben aber in einigen Kollektivverträgen kürzere Arbeitszeiten, meist 38,5 Wochenstunden, aber in einigen auch 36 verhandelt. Es gibt viele Gründe, warum in Zukunft die Normalarbeitszeit nicht 40 Stunden, sondern 30 Wochenstunden betragen muss. Einerseits ist wie bereits gesagt die Produktivität enorm gestiegen, weshalb es nicht mehr notwendig ist, so lange wie vor 80 Jahren zu arbeiten. Andererseits sind kürzere Arbeitszeiten gesünder und machen uns zufriedener. Lange Arbeitszeiten sind hingegen ungesund. Sowohl das lange Sitzen in Büros als auch die Abnutzung durch monotone Arbeitsabläufe führen bei vielen Arbeitnehmer*innen zu dauerhaften Schäden. Die deutsche Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beobachtete bei Arbeitszeiten über 35 Stunden pro Woche einen „deutlichen Anstieg des Grundrisikos für gesundheitliche Beeinträchtigungen“. Schon im Jahr 2005 kam eine Langzeitstudie unter 11.000 US-Amerikaner*innen zum gleichen Schluss: Stress und Müdigkeit durch lange Arbeitszeiten erhöhen das Risiko zu erkranken oder zu verunfallen.
Diesen Beschwerden und Risiken kann man mit einer Arbeitszeitverkürzung vorbeugen. Außerdem bedeutet mehr Freizeit auch mehr Zeit für Erholung und mehr Zeit für ausgleichende körperliche Betätigungen. Darüber hinaus führt eine kürzere Arbeitswoche zu weniger Stress und somit zu einem niedrigeren Blutdruck. Beschäftige erkranken dadurch seltener, und Burnouts können vermieden werden. Neben dem individuellen Vorteil entstehen dadurch auch weniger Kosten für die Allgemeinheit, weil das Gesundheitssystem weniger belastet wird. Zusätzlich bringt eine Arbeitszeitverkürzung mehr Zeit für Familie und Freund*innen, ein Aspekt, der für die Beschäftigten immer wichtiger wird und für die jüngere Generation unverzichtbar geworden ist. Auch für das Klima ist eine 4-Tage-Woche gut: 85 Prozent der Pendler*innen in Österreich sind mit dem Auto unterwegs, bei vier statt fünf Fahrten zur Arbeit würden in Österreich jährlich rund 250.000 Tonnen CO2 weniger produziert werden. Arbeitsbedingte Zeitknappheit fördert zudem den Konsum von zeitsparenden Produkten und Dienstleistungen, wie beispielsweise Tiefkühl- und Fertigessen, wenn nach und während der Arbeit keine Zeit und Energie mehr zum Kochen vorhanden ist, und diese schneiden in der Umweltbilanz schlechter ab als selbst zubereitetes Essen. Auch für Unternehmen entstehen dadurch viele Vorteile, denn Untersuchungen zeigen, dass kürzere Arbeitswochen zu mehr Engagement und größerer Zufriedenheit der Belegschaft führen. Das Argument, dass die Unternehmen es sich nicht leisten können, die Arbeitszeit zu reduzieren und in Insolvenz gehen würden, wurde in vielen durchgeführten Beispielen von Arbeitszeitverkürzung widerlegt. So reduzierte beispielsweise eine Onlinemarketingfirma im Mühlviertel 2018 die Arbeitszeit von 40 auf 30 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich. Das Ergebnis nach vier Jahren ist: zehnmal so viele Bewerbungen, Verdoppelung der Mitarbeiter*innenanzahl, Steigerung der Produktivität ohne Arbeitsverdichtung, zufriedenere Beschäftigte und mehr Umsatz als vorher. Auch ein steirischer Installationsbetrieb reduzierte die Arbeitszeit erfolgreich auf 35 Wochenstunden, ebenso ein Osttiroler Naturkosmetiker. Mehr Erfahrungen mit der 4-Tage-Woche gibt es bereits in anderen Ländern. Einer der größten bisherigen Versuche fand letztes Jahr in Großbritannien statt: Mehr als 3.000 Arbeitnehmer*innen in rund 70 britischen Unternehmen und Organisationen nahmen an dem sechsmonatigen Experiment teil. Die Arbeitnehmer*innen bekamen weiterhin 100 Prozent ihres Gehalts, arbeiteten aber nur noch 80 Prozent der bisher vorgegebenen Zeit. Grundlage dieses Versuchs war die Annahme, dass weniger Arbeitszeit aufgrund der erhöhten Freizeit zu mehr Produktivität führt. Wissenschaftlich wurde der Feldversuch von den Universitäten Cambridge, Oxford und Boston College begleitet. Die Organisator*innen der Studie lieferten im Herbst letzten Jahres eine erste Bilanz: Ein Großteil der Befragten bevorzugt das neue Modell, auch weil keine nachtteiligen Auswirkungen auf die Produktivität festgestellt werden konnten. Einige der teilnehmenden Beschäftigten haben die zusätzliche Freizeit für neue Hobbys genutzt, andere den zusätzlichen freien Tag für Hausarbeit. Das ermöglichte es den Personen, das Wochenende freier und mit der Familie zu gestalten. Für die Unternehmen auf der anderen Seite war die Umsetzung in den ersten paar Wochen eine Herausforderung, der Ablauf sei chaotisch gewesen, so der erste Zwischenbericht, das habe sich aber eingependelt. Anschließend animierte die kürzere Arbeitszeit die Betriebe dazu, Arbeitsabläufe zu optimieren, überflüssige Aufgaben und Meetings abzubauen und weniger Zeit im Unternehmen abzusitzen, wenn die Luft sowieso schon raus ist. Während Großbritannien gerade erst den Versuch beendet hat, arbeiten in Island nach einem Pilotprojekt 2021 bereits 86 Prozent der Beschäftigten weniger als Vollzeit.
Die Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Einkommensausgleich ist die Zukunft. Gerade junge Arbeitnehmer*innen fordern seit Jahren eine gute Work-Life-Balance. Aus vielen Studien und Beispielen aus der Arbeitswelt wissen wir, dass verkürzte Wochenarbeitszeiten eine deutliche Entlastung für Individuen, Familien und die Gesellschaft insgesamt bringen. Einige Gutverdiener*innen reduzieren die Arbeit bereits auf eigene Kosten – ein Konzept, das für viele nicht aufgeht, weil sie trotz Vollzeitjob nicht davon leben können.
4.2 Working Poor
300.000 Beschäftigte sind in Österreich armutsgefährdet – obwohl sie arbeiten. Es gibt immer mehr erwerbstätige Menschen, deren Einkommen keinen Lebensstandard über der Armutsgefährdungsschwelle ermöglicht, dabei sollte Arbeit eigentlich ein Schutz vor Armut sein. 45 Prozent der Arbeitnehmer*innen in Österreich verdienen so wenig, dass sie kaum von ihrem Einkommen leben können, 9 Prozent gar nicht. Man spricht von Erwerbsarmut oder Working Poor, wenn eine Person trotz Erwerbstätigkeit arm oder von Armut betroffen ist. Besonders betroffen sind prekär Beschäftigte und Alleinerziehende. Um irgendwie über die Runden zu kommen, haben viele Betroffene zwei oder drei Jobs. Die Hälfte der Working Poor arbeitet jedoch Vollzeit.
Einige Jobs und Branchen fallen besonders im Zusammenhang mit Erwerbsarmut auf: die Gastronomie, der Handel und das Gesundheits- und Sozialwesen. Neben einer niedrigen Bezahlung verstärkt eine unregelmäßige Beschäftigung wie in der Gastronomie die Erwerbsarmut. Ohne Sozialleistungen wäre der Anteil derer, die trotz Arbeit nicht davon leben können, noch höher.
Das Ziel des ÖGB ist ein gutes Leben für alle. Dazu gehören auch Löhne und Gehälter, von denen die Menschen leben können – nicht nur überleben, sondern gut leben. Der ÖGB und die Gewerkschaften haben deshalb 2019 die Forderung aufgestellt, dass in Österreich jede vollzeitarbeitende Person zumindest 1.700 Euro brutto verdienen muss. Wir konnten dies inzwischen in fast allen Bereichen umsetzen, weniger als 5 Prozent der Beschäftigten liegen noch unter diesem Wert. Durch die aktuelle Inflation werden wir in kürzester Zeit auch bei den übrigen Kollektivverträgen dieses Ziel erreichen. Wir haben daher nach unserer Betriebsrätekonferenz am 7. September 2022 unsere Mindestlohnforderung angepasst und fordern nun mindesten 2.000 Euro brutto (ohne Zulagen) in jedem Kollektivvertrag in der untersten Stufe. Das entspricht netto 1.526 Euro. Je nach Lebenssituation (Single, Partnerschaft, Kinder, alleinerziehend etc.) und Wohnort ist dies immer noch herausfordernd. Momentan verdienen dennoch rund 20 Prozent aller Arbeitnehmer*innen weniger als 2.000 Euro brutto, das ist jede fünfte arbeitende Person. Erreichen wir unser Ziel, erreichen wir also eine Verbesserung für 20 Prozent aller Arbeitnehmer*innen. Aber auch die Superreichen müssen endlich etwas dazu beitragen, Armut in einem der reichsten Länder der Welt mit aller Macht zu bekämpfen. Wir wollen ein gutes Leben für alle, nicht nur für manche.
5. Arbeitsmarkt für alle
Die Forderung eines guten Lebens für alle endet nicht an den nationalen Grenzen. Wir brauchen die europäische und die internationale Ebene, um in Zukunft die Rechte aller und der österreichischen Arbeitenden zu sichern. Die Arbeitnehmer*innen in Europa brauchen daher einen starken Gewerkschaftsbund, der ihre Interessen wirkungsvoll vertritt. 1973, also vor genau 50 Jahren haben sich deshalb die Gewerkschaften in Europa zusammengeschlossen, um mit ihrer Stimme auf die Politik in Europa einwirken zu können, und den Europäischen Gewerkschaftsbund gegründet. Der ÖGB ist von Anfang an dabei. Heute spricht der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) mit einer einzigen Stimme für 93 nationale Gewerkschaftsbünde in 41 Ländern sowie zehn europäische Gewerkschaftsverbände und hat dadurch ein stärkeres Mitspracherecht bei Entscheidungsfindungen in der EU. Ziel des EGB ist es, dass das soziale Europa in der europäischen Politik Vorrang erhält. Europa braucht eine starke soziale Dimension, nicht nur eine wirtschaftliche. Der EGB kämpft deshalb für Lohnerhöhungen für Arbeitnehmer*innen, die vollständige Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, hochwertige Arbeitsplätze für alle, ein hohes Maß an sozialem Schutz, Gleichstellung der Geschlechter und gerechte Entlohnung, gute Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, Freizügigkeit für europäische Arbeitnehmer*innen und ein Ende des Sozialdumpings, hochwertige öffentliche Dienstleistungen, die für alle zugänglich sind, einen europäischen Rahmen zur Anhebung des Standards der nationalen Sozialgesetzgebung, Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels bei gleichzeitiger Förderung eines gerechten Übergangs für die Arbeitnehmer*innen und Förderung dieser europäischen sozialen Werte in anderen Teilen der Welt.
Durch das unermüdliche Engagement der Gewerkschaften in ganz Europa haben wir unzählige wichtige Erfolge für Arbeitnehmer*innen erzielt. Beispielsweise konnte der EGB durch langwieriges Lobbying erreichen, dass in der europäischen Säule sozialer Rechte 2017 der Anspruch formuliert wurde, dass es Mindestlöhne geben soll, die über das bloße Existenzminimum hinausgehen und Arbeitnehmer*innen und ihren Familien eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ermöglichen. Bei der Erarbeitung der Whistleblowing-Norm war der EGB von Anfang an bei der Entwicklung der Standards beteiligt. Insgesamt wurden fast alle EGB-Forderungen bei der Whistleblowing-Norm aufgenommen. Insbesondere die Position von Arbeitnehmer*innen wurde gestärkt, nun sind Arbeitende, die Missstände melden, geschützt und können nicht auf schwarze Listen gesetzt werden. Darüber hinaus wurde das Hinzuziehung von Arbeitnehmer*innenvertretungen wie z. B. Gewerkschaften gewährleistet.
Sowohl die Hinweisgebenden als auch die Gewerkschaftsvertreter*innen sind dadurch abgesichert. Bei vielen weiteren Gesetzesentwürfen auf europäischer und internationaler Ebene wie beispielsweise beim Pariser Abkommen hat der Europäische Gewerkschaftsbund im Sinne der Arbeitnehmer*innen lobbyiert, der EGB bestand beispielsweise darauf, dass das Just-Transition-Konzept Teil des Abkommens wird. Auch bei der Gründung neuer Institutionen wie der Europäischen Arbeitsbehörde (kurz ELA) hat der EGB dafür gesorgt, dass die Interessen der arbeitenden Menschen berücksichtig werden. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat aber nicht nur Gesetze im Entstehungsprozess positiv im Sinne der Arbeitnehmer*innen beeinflusst, er hat auch verhindert, dass Gesetze, die bereits die Rechte der Arbeitnehmer*innen schützen, neu verhandelt werden, um diese abzuschwächen, wie beispielsweise bei der Working Time Directive.
Da auch die Wirtschaft global agiert, ist es wichtig, dass auch die Gewerkschaften auf europäischer und internationaler Ebene zusammenarbeiten. Der Handel und die Produktion eines einzigen Produktes sind oft auf die verschiedensten Teile der Welt verteilt. Die Produktionsstätten innerhalb dieser weltweiten Lieferketten befinden sich meistens im Globalen Süden. Immer wieder werden dort Arbeitnehmer*innenrechte verletzt: das Recht auf einen angemessenen Lohn, sichere Arbeitsbedingungen, das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen, Kollektivvertragsverhandlungen zu führen oder zu streiken. 160 Millionen Kinder weltweit sind Opfer von Kinderarbeit, 79 Millionen von ihnen müssen unter äußerst gefährlichen Bedingungen Kinderarbeit leisten. Viele erinnern sich vielleicht noch an die über 1.100 Toten und über 2.000 Verletzten, die der Einsturz der Textilfabrik von Rana Plaza in Bangladesch im Jahr 2013 forderte. Die Opfer waren Näher*innen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen T-Shirts für namhafte europäische Unternehmen produzierten. Die Textilkonzerne haben sich gleich nach der Katastrophe aus der Verantwortung gestohlen. Erst nach einem internationalen Aufschrei wurden unzureichende Entschädigungen an die Opfer geleistet. Die internationale Lage hat sich jedoch nicht gebessert: Immer wieder kommt es zu verheerenden tödlichen Unfällen am Arbeitsplatz. 80.000 Tonnen in der EU verbotene Pestizide wurden 2018 von europäischen Unternehmen exportiert. Sie sind in Europa verboten, weil sie die Gesundheit der Arbeiter*innen gefährden und die Umwelt zerstören. Dennoch werden sie von europäischen Firmen ins Ausland verkauft und in Ländern des Globalen Südens etwa für die Palmölproduktion eingesetzt – zumeist ohne angemessenen Arbeitsschutz.
Aber auch in Europa werden beispielsweise Ernte- und Bauarbeiter*innen regelmäßig ausgebeutet. Firmen nehmen häufig die Ausbeutung von Menschen und die Zerstörung der Umwelt in Kauf, um so viel Profit wie möglich zu machen. Verantwortung wird abgeschoben – damit muss Schluss sein! Die Verantwortung darf nicht an der Landesgrenze enden. Nach jahrzehntelangen Forderungen von ÖGB und den internationalen Gewerkschaftsbünden kommt in Europa Bewegung in die Sache. Die EU-Kommission legte 2022 ein EU-Lieferkettengesetz vor, dass endlich den notwendigen Paradigmenwechsel von freiwilligen Selbstverpflichtungen der Unternehmen zum gesetzlich verpflichtenden Schutz von Menschen-, Arbeits- und Gewerkschaftsrechten sowie der Umwelt einleitete. Die Idee hinter dem neuen Gesetz ist es, globalisierte Produktionsprozesse nicht auf Kosten der Umwelt oder der Menschenrechte zuzulassen. Kinderarbeit, Raubbau an der Natur oder Ausbeutung von Menschen sollen im Zuge des Warenflusses verhindert werden. Der Gesetzesvorschlag umfasst aber nur einen Bruchteil der Unternehmen, und die Einbindung der Gewerkschaften und von Betriebsräten ist nicht ausreichend sichergestellt.
Noch verhandeln die verschiedenen europäischen Institutionen über die genauen Details, und die Gewerkschaften werden weiterhin im Sinne der Arbeitnehmer*innen lobbyieren.
Die Zukunft der Arbeit könnte so aussehen, dass die Ausbeutung von Menschen im Globalen Süden voranschreitet, die Umwelt im Namen des Wirtschaftswachstums und des Wohlstands zerstört wird, die Arbeitszeiten unter dem Deckmantel der Arbeitszeitflexibilisierung ausgeweitet werden, der Sozialstaat unter dem Vorwand zu hoher Lohnnebenkosten abgebaut und die psychische Belastung durch ständige Erreichbarkeit und Kontrolle enorm wird.
Die Zukunft der Arbeit kann aber auch so aussehen, dass Frauen, Migrant*innen, Menschen mit Behinderung und queere Personen nicht mehr diskriminiert werden, die schwere körperliche Belastung aufgrund von neuer Technologie sinkt, wir kürzere Arbeitszeiten und eine bessere Work-Life-Balance haben und einen gerechten Lohn für unsere Arbeit erhalten. Als Gewerkschaft werden wir weiter dafür mit aller Kraft auf nationaler und internationaler Ebene kämpfen. Ein gutes Leben für alle ist möglich – wenn wir dafür einstehen.
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