Bringt Digitalisierung mehr Chancengleichheit am Arbeitsmarkt?
Nadja Bergmann arbeitet seit 2001 als Soziologin bei L&R Sozialforschung mit den Themenschwerpunkten Gleichstellung und Erwerbsarbeit sowie unbezahlte Arbeit. In den letzten Jahren hat sie verschiedene Studien rund um Gleichstellung, Digitalisierung und Arbeitsmarkt durchgeführt, unter anderem für die Stadt Wien sowie gefördert durch den Digitalisierungsfonds Arbeit 4.0 der Arbeiterkammer Wien. Nadja Bergmann ist Referentin im Lehrgang “Digitalisierung in Wien“.
Digitalisierung und Arbeitsmarkt war bis vor einigen Jahren im öffentlichen Diskurs stark auf die Industrie 4.0 konzentriert. Roboter, welche den Industriebeschäftigten die Arbeit wegnehmen, prägten das mediale Bild. Betroffen waren – so schien es – vor allem männerdominierte Jobs in der Industrie.
Seit einigen Jahren setzte sich jedoch immer mehr die Erkenntnis durch, dass Digitalisierung alle Branchen und Berufe – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – betrifft. Der Sorge um Jobverluste (die sogenannte Substituierungsdebatte, welche das Automatisierungspotential von Berufen in den Blickpunkt rückte) wurden andere Theorien bzw. empirische Evidenzen zur Seite gestellt: Es „verschwinden“ nicht ganze Berufe oder Berufsgruppen, sondern die Anforderungen verschieben sich – und dies nicht nur in der Industrie, sondern in mehr oder weniger allen Branchen. Um ein paar Beispiele herauszugreifen: Beschäftigte die bislang im Supermarkt Regale einschlichteten und die Kasse bedienten, sind nun zusätzlich in ein System der Warenlogistik eingebunden und Teil der Datenerfassung und -weitergabe, in den Lagerhallen wird körperlich anstrengende Arbeit durch Maschinen ersetzt, die bedient und gewartet werden müssen, administrative Kräfte arbeiten mit kollaborativen Datenverwaltungssystemen und richten Videokonferenzen für ihre Vorgesetzten ein. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen: Deutlich wird, dass Frauen- wie Männerberufe von ständigen Änderungsprozessen durch Digitalisierung betroffen sind – bei manchen sind diese Änderungen offensichtlicher, bei manchen laufen sie versteckter ab (L&R Sozialforschung, Institut für Sozialforschung Wien | Forschung, Beratung/Entwicklung, Netzwerke, Vorträge/Veranstaltungen (lrsocialresearch.at)).
Zudem ist festzuhalten, dass Automatisierungspotentiale nicht gleichzusetzen sind mit der tatsächlichen Realisierung dieser – ökonomische und gesellschaftliche Entscheidungen spielen hier ebenfalls eine Rolle. Unbestritten ist aber dennoch, dass die Arbeitswelt einem großen Wandel unterliegt, der für die einen eher neutral verläuft, während andere positiv, wiederum andere negativ betroffen sind. Hier zeichnet sich eine stärkere Ausdifferenzierung zwischen Berufsgruppen aber auch hierarchischen Beziehungen ab. Diese Ausdifferenzierung zeigt auch geschlechterbezogene Muster, da Frauen und Männer in Österreich in unterschiedlichen Berufen und hierarchischen Positionen arbeiten.
Bringt Digitalisierung vor diesen Hintergrund nun mehr oder weniger Chancengleichheit am Arbeitsmarkt?
Der Blog-Beitrag von Astrid Schöggl (Digitalisierung in der Arbeitswelt: Eine politische Frage – von Astrid Schöggl – Wiener Bildungsakademie % (wiener-bildungsakademie.wien) trägt hier einige zentrale Befunde zusammen, die nachfolgend mit einigen aktuellen Zahlen aus einer repräsentativen Befragung unter Wienerinnen aus dem Jahr 2020 ergänzen werden. Diese Befragung haben wir im Auftrag des Frauenservice Wien (MA 57) im Rahmen des aktuellen Frauenbarometer (https://www.wien.gv.at/menschen/frauen/stichwort/digitalisierung/) durchgeführt. Thema des Frauenbarometers ist „Frauen – Digitalisierung – Gestaltungspotenziale“.
Die Ergebnisse der Befragung verdeutlichen, dass die Verteilung der Voraussetzungen zur Teilhabe an der digitalen Transformation im Berufsleben sehr ungleich verteilt sind – auch zwischen Frauen – je nach Ausbildungshintergrund, Beruf bzw. beruflicher Position (ganz zu schweigen davon, dass nicht-erwerbstätige Personen noch stärker von der Teilhabe ausgeklammert werden):
- Von jenen Befragten, die zum Zeitpunkt der Befragung eine Aus- oder Weiterbildung absolvierten, bezeichnete ein Fünftel diese als technikorientiert. In diesen technikorientierten Ausbildungen werden laut Einschätzung der Wienerinnen viele digitale Fertigkeiten vermittelt (90%), während bei den nicht-technischen Ausbildungen der Anteil deutlich geringer ist (38%). Hier zeigt sich bereits ein essentieller Problembereich: Schon bei der Ausbildung werden digitale Kompetenzen unterschiedlich vermittelt – zum Nachteil eher frauendominierter Ausbildungsfelder. Diese Nachteile verfestigen sich im Berufsleben eher als sie „aufgehoben“ werden.
- Immerhin jede fünfte Wienerin hat in den letzten drei Jahren eine digitalisierungsspezifische Weiterbildung absolviert. Die Wahrscheinlichkeit zu einer derartigen Weiterbildung steigt mit dem formalen Ausbildungsniveau (7% Wienerinnen mit Pflichtschulabschluss, 27% mit tertiärem Abschluss), aber auch andere Faktoren sind von Relevanz, etwa die Frage der Berufstätigkeit generell sowie spezifisch des ausgeübten Berufes. So werden etwa Beschäftigte in der Beherbergung und Gastronomie oder aus Dienstleistungsberufen deutlich weniger unterstützt.
- Berufstätige Frauen erleben die digitalen Veränderungen im beruflichen Bereich mehrheitlich positiv. Vor allem eine Vereinfachung und verbesserte Effizienz der Arbeitsabläufe werden genannt (67% sehr/eher zustimmend). Zugleich wird aber deutlich, dass es Gruppen gibt, die ein geringeres Maß an Zugewinn beruflicher Gestaltungsspielräume durch die Digitalisierung erleben: vor allem Hilfskräfte oder Frauen in Dienstleistungs- und Verkaufsberufen. Hier überwiegt der Eindruck, Digitalisierung vor allem zur Überwachung ihrer Arbeit eingesetzt wird.
- Aus frauenpolitischer Sicht ist daher ein Fokus auf jene Gruppen wichtig, die bislang eher von Nachteilen der Digitalisierung berichten und gleichzeitig auch von wenig Unterstützung und Förderung, etwa im Rahmen von Aus- oder Weiterbildungen.
- Die Wienerinnen selbst wünschen sich in dem Zusammenhang unterschiedliche Weiterbildungs- und Bildungsangebote – zwei Drittel der befragten Wienerinnen vertreten die Ansicht, dass in Wien Bildungsangebote rund um Digitalisierung speziell für Frauen und Mädchen wichtig wären.
Wenn auch Aus- und Weiterbildung nicht alle Problemfelder löst, die rund um Digitalisierung, Arbeitsmarkt und Chancengleichheit entstehen, könnte der Fokus auf jene Ausbildungen und Berufsgruppen, wo vor allem Frauen beschäftigt sind, zumindest einen ersten Ausgleich schaffen.
Aber auch bei weiteren bestehenden arbeitsmarktbezogenen Schieflagen punkto Arbeitsbewertung, Arbeitsplatzsicherheit oder Arbeitsbelastung verweisen aktuelle Studien darauf, dass eher eine Verschärfung ungleicher Bedingungen erwartet werden kann, wenn nicht gegengesteuert wird. So zeigen Untersuchungen in Deutschland, dass sich die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern vergrößern könnten, da mehr Männer in „digitalisierungsnahen“ Berufen tätig sind und diese tendenziell größere Einkommenszuwächse verzeichnen (Gutachten (Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung) (dritter-gleichstellungsbericht.de)).
„Von selbst“ bzw. ohne Gegensteuern bringt Digitalisierung also nicht mehr Chancengleichheit am Arbeitsmarkt, um auf die Titelfrage zurückzukommen. Politische, gewerkschaftliche, gleichstellungspolitische, investitionspolitische und bildungspolitische Strategien sind hier gefragt, um dagegen anzukommen.
Tag:Digitalsierung