Digitale Biopolitik und notwendige Lebensrettung – von Alessandro Barberi
Dieser Beitrag erschien zuerst am 27.11.2020 exklusiv in der Wiener Subkultur und ihrem Underground (skug) und findet sich daher in früherer Form online unter https://skug.at/digitale-biopolitik-und-notwendige-lebensrettung/. Parallel dazu wurde er auch in der Diskussionszeitschrift „Die Zukunft“ in der Ausgabe 10/2020 veröffentlicht:
Dass die Linke im Blick auf Corona in ein Pendeln zwischen Revolution und Apokalypse gerät, ist für Alessandro Barberi Ausgangspunkt einer Analyse der digitalen Biopolitik im Neoliberalismus. Denn das Virus stellt eine Naturgewalt dar, die ganz materialistisch die menschlichen Interpretationen an der Grenze von Leben und Tod neutralisiert.
Selig, wer diese prophetischen Worte vorliest
und wer sie hört und wer sich an das hält,
was geschrieben ist;
denn die Zeit ist nahe.
Offenbarung des Johannes, Kapitel 1.3
Also liegt nun der Inhalt des geheimnisvollen Buchs in voller Klarheit vor uns.
„Johannes“ sagt die Rückkehr Neros ungefähr für das Jahr 70
und seine Schreckensherrschaft voraus, die 42 Monate oder 1.260 Tage dauern soll.
Nach dieser Zeitspanne erscheint Gott, überwältigt Nero, den Antichrist,
zerstört die große Stadt durch Feuer und fesselt den Teufel für ein Jahrtausend.
Das Tausendjährige Reich beginnt etc.
Friedrich Engels: Das Buch der Offenbarung, London 1883
Die Linke zwischen Revolution und Apokalypse
Dass der Spätkapitalismus mit seiner breit angelegten Deregulationsstrategie seit rund dreißig Jahren das umkämpfte Gebiet der Individualität und Subjektivität besetzt, wurde mehrfach im Sinne einer Kritik am Neoliberalismus und seinen Schockstrategien argumentiert. Auch in diesem Zusammenhang pendelt, wie Georg Fülberth angesichts des 200. Geburtstags von Friedrich Engels jüngst in konkret in Erinnerung rief, nicht nur der General, sondern die Linke insgesamt und erneut angesichts der Corona-Pandemie zwischen Revolution und Apokalypse, zwischen Durchsetzung einer neuen gemeinschaftlichen Ordnung und Weltuntergang. Sie untersteht damit nach wie vor der „Symbolischen Macht der Apokalypse“ (Christian Zolles). So machen die Jünger*innen des Giorgio Agamben in der derzeitigen Situation gar die absolute Zuspitzung des Schmittschen Ausnahmezustands aus, indem die Menschheit angeblich kollektiv auf das „nackte Leben“ (homo sacer) zurückgeworfen und die Krise zum Normalfall wird. Und seichte Foucaultianer*innen, die eine Reduktion des Virus auf seine konstruktivistischen Anteile vornehmen, haben die endgültige biopolitische Durchsetzung der neoliberalen Regierungsmentalität vor Augen, wenn alles gut geht und sie nicht schon selbst zum Teil dieser Mentalität geworden sind.
An der Grenze von Leben und Tod
Denn die normative Macht über Leben und Tod scheint nun angesichts der quantitativ vor Augen stehenden COVID-19-Mortalität kaum deutlicher hervortreten zu können als in der kollektiven Option für biopolitische Lebensverlängerung. So wird eine historische Linie zu Ende gebracht, die von Lepra, Pest, Pocken, Spanischer Grippe und AIDS bis in unsere Lockdown-Gegenwart reicht und noch den heutigen Gesellschaftszustand als „Kerkerstadt“ begreift. Dabei ist nicht ganz zu übersehen, dass auch der „rationale Kern linker Verschwörungstheorie“ (Peter Brückner) die blanke Materialität und Natur des Virus aus dem Blick drängen kann, ist er doch als biologische Tatsache und als „Reales“ der deutliche Grenzwert menschlicher (De-)Konstruktionen. Das Virus insistiert als materielle Gegebenheit auch vollkommen ungeachtet der menschlichen Interpretationen bzw. Sinn- und Bedeutungszuschreibungen an der Grenze des Symbolischen. Des Weiteren wird deutlich, dass „die Macht“ die derzeitige Situation nicht – ausgehend von einer panoptischen Zentrale – geplant haben kann, weil sie ihrerseits angesichts dieser „natürlichen Tatsache“ mit den eigenen internen Widersprüchen an die Grenze ihrer (vitalen) Existenzmöglichkeiten gebracht wurde. Insofern ist auch angesichts von Corona-Leugner*innen und rechten Verschwörungstheorien eine rationale und aufgeklärte Kritik jeder paranoischen Weltsicht vonnöten. Zu raten ist uns allen also in Isolationszellen und selbst noch Isolierstationen: Stay open minded and avoid paranoia!
Eine digitale Höllenmaschine
Freilich war etwa die Durchsetzung der menschlichen Arbeits- und Lebenswelten durch und mit Kybernetik, Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sowie Digitalisierung ein Kernelement des möglichst präzisen Ausbaus der kapitalistischen Höllenmaschine im Sinne einer „technologischen Konterrevolution“ (Hermann L. Gremliza), die einer ausbeuterischen Durchtaktung und Verknappung der Lebenswelt(en) entsprach. Insofern wurden mit den beiden Lockdowns nun annähernd alle Menschen auf die Notwendigkeit gestoßen, digitale Medien zu nutzen, was durchaus den Vorstellungen aktueller Betriebswirtschafter*innen zugutekommen könnte, die etwa das home office begrüßen, weil es einem rentablen outsourcing entspricht. Die digitalisierten Arbeitsplätze und die Kommunikation(en) über Videokonferenzsysteme sind aus dieser Sicht der Endmäander einer Industrie 4.0, die aber auch zu einer Schule 4.0 werden könnte. Denn – zumindest dem Wunsche nach – waren die digitalen Medien mit dem Aufkommen des world wide web auch mit der Möglichkeit einer radikalen Demokratisierung und technologischen Revolution aufgeladen, wie jüngst auch mit der Autobiografie von Edward Snowden deutlich wurde. Eine Revolution, die sich nunmehr insofern ankündigt, als der Vampir des kapitalistischen Produktionssystems zwar auf den Finanzmärkten horrende Profite absaugt, nichtsdestotrotz auf der Ebene der Realwirtschaft eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen seit Menschengedenken vor Augen steht.
Das Virus ist aus dieser Perspektive nur oberflächliches Symptom einer mehr und mehr zerfallenden (sozioökonomischen) „Anatomie der Gesellschaft“ (Marx). Wir können daher die These und Prognose wagen, dass zwischen digitaler Biopolitik und aktuell notwendiger Lebensrettung der gravierende Charakter dieser Krise des Kapitalismus erst dann klar vor Augen steht, wenn das Virus durch das starke Sinken oder Verschwinden der Mortalität aus der individuellen und kollektiven Wahrnehmung verschwunden ist und sei es durch das Einsetzen eines sich ankündigenden Impfstoffs. Eben weil die Produktivität der Lebens- und Arbeitskraft mit den Lockdowns weitgehend gelähmt ist, kommt das kapitalistische Getriebe sozusagen hinter dem Virus also (fast) an einen Nullpunkt, liegt damit erneut am Sterbebett und in zuckender Agonie. Mit Jean-Luc Godard gesprochen stehen wir mithin an einer nur scheinbar paradoxen Grenze, an der Sauve qui peut (la vie) – Rette sich, wer kann (das Leben) gilt und gleichzeitig der Körper des Kapitalismus gerade nicht am Leben erhalten werden sollte. Denn nur in dieser aktuellen „Dialektik im Stillstand“ (Walter Benjamin) können die Toten der Corona-Pandemie nicht kausal auf das Wirtschaftssystem bezogen werden, das aber systematisch damit verbunden war, die öffentlichen Gesundheitssysteme auszuverkaufen. Insofern brauchen wir öffentlich finanzierte Krankenbetten für alle, aber sicher keines für die kapitalistische Produktionsweise. Applaus, Applaus!
Widerstand und Freiheit
Doch wie zuvor kann angesichts der Zerstörung kollektiver Organisationen des Widerstands seit Reagan und Thatcher nicht präzise ausgemacht werden, ob „das System“ sich nunmehr wie nach dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 und der Finanzkrise von 2007/2008 restabilisieren wird, eben weil im Neoliberalismus dem Freiheitskampf fast nur individuelle Nischen der Subjektivität zur Verfügung stehen. Für den Widerstandskampf bedeutet dies aber auch unter den extremen gegenwärtigen (Produktions-)Bedingungen auf jeden Fall, sich mit „kalter Wut“ (Dietmar Dath) daran zu erinnern, dass die Problemlagen unserer Gesellschaften und Kulturen sich nicht durch wie auch immer wirkende Technologien und Maschinen ergeben, sondern durch die Brutalität der Eigentums- und d. h. Klassenverhältnisse, die gerade angesichts der COVID-19-Pandemie (denken wir nur an den digital divide) mehr als deutlich vor Augen stehen. Vom Faustkeil über das Pulver bis zum Siliziumchip gilt also gerade jetzt die Regel, dass es darauf ankommt, wie Menschen die von ihnen produzierten Gegenstände sowie Instrumente – und auch digitale Medien sind nichts anderes – einsetzen. For good or for bad. Mit einem Faustkeil konnte der Nächste erschlagen oder aber auch Feuer gemacht werden. Mit den Worten Marxens: „Das Pulver bleibt das gleiche, ob man sich seiner bedient, um einen Menschen zu verletzen oder um die Wunden des Verletzten zu heilen.“
Digitaler Kapitalismus 4.0? Digitaler Humanismus 4.0
Insofern sind die existenziellen Grenzwerte, an die wir durch die verkehrte (neofeudale und nicht nur neoliberale) Welt der Lockdowns gedrängt werden, individuelle Nischen der biopolitischen Steuerung durch digitale Architekturen der Big Five (Google, Amazon, Facebook, Microsoft und Apple) und damit der California Ideology aus Palo Alto und Stanford, wie jüngst auch mit Jeff Orlowskis Dokumentarfilm The Social Dilemma (2020; vgl. netflix) deutlich wurde. So erkannte etwa der Erfinder des Like-Buttons auf Facebook, dass seine durchaus menschlichen Intentionen schlussendlich mit Frankensteins Monster verbunden waren und sich in ihr Gegenteil verkehrten. Parallel dazu sind aber digitale Medientechnologien auch der Ort, an dem medialer Widerstand – etwa im Sinne eines kollektiven Medienaktivismus – sich im Sinne neuer Gemeinschaftsformen (creative commons, common wealth, open source, Gemeinwohlökonomie etc.) bündeln und sammeln kann. Denn selbst die digitalen Welten des social distancing haben neuartige Formen der menschlichen Nähe mit sich gebracht, auch wenn auf emotionaler Ebene der menschliche Kontakt und die zwischenmenschliche Kommunikation gerade nicht digitalisiert werden können (Vgl. Barberi et al.: MEDIENIMPULSE 02/2020). Auch deshalb bleibt angesichts des Digitalen Kapitalismus 4.0 weiterhin darauf zu bestehen, dass eine andere, eine alternative Welt der Freiheit möglich und umsetzbar ist. Eine Welt im Sinne des Digitalen Humanismus 4.0 und des Digitalen Sozialismus 4.0.
Conclusio
Insgesamt sollte also nicht vergessen werden, dass – wie auch Slavoj Žižek mehrfach betonte – angesichts der blanken empirischen und biologischen Materialität und Lebensgefährdung des Virus wahrlich nicht die Zeit für feinnervige Diskursanalysen und (De)Konstruktionen ist, weil es der Linken auch angesichts des Digitalen Kapitalismus um nichts anderes gehen kann, als darum, die Menschenrechte (gerade auch für mehrfach leidende Flüchtlinge) beinhart zu verteidigen.
Die oberste Ethik – durchaus more geometrico im Sinne Spinozas – ist in diesem Fall also die der individuellen und kollektiven Rettung von konkreten Menschenleben, die sich am Ende der Krise zusammenfinden könnten, um nach überstandener Krankheit auf freiem Feld neue Formen der Genesung und Gemeinschaft auszuhandeln und zu finden. Ein Gespenst geht um in Europa …
ALESSANDRO BARBERI
ist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Wien und Magdeburg. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/
Literatur
Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Barberi, Alessandro (2020, in Druck): Medienpädagogische Elemente einer Medienethik nach Dieter Baacke: Psychoanalyse, Sprachspiel und Diskursethik als Voraussetzungen eines digitalen Humanismus, Baden-Baden: Nomos, Autorenversion online unter: https://tinyurl.com/y5nxjd5n (letzter Zugriff: 01.11.2020).
Barberi, Alessandro/Grünberger, Nina/Schmölz, Alexander (Hg.) (2020): MEDIENIMPULSE 02/2020: Nähe(n) und Distanz(en) in Zeiten der COVID-19-Krise, online unter: https://tinyurl.com/y6lyy4e9 (letzter Zugriff: 01.11.2020).
Brückner, Peter (2006): Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse, Berlin: Wagenbach.
Dath, Dietmar (2018): Karl Marx. 100 Seiten, Ditzingen: Reclam.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1974): Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Engels, Friedrich (1975): Das Buch der Offenbarung, MEW 21: 9–15, online unter: https://tinyurl.com/yxgcuk73 (letzter Zugriff: 01.11.2020).
Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Fülberth, Georg (2020): Revolution vs. Apokalypse, in: konkret 11/2020, 34–35.
Gremliza, Hermann L. (2017): Die technologische Konterrevolution, in: konkret 2/2017, 9.
Hardt, Michael/Negri, Antonio (2010): Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt am Main: Campus.
Nida-Rümelin, Julian/Weidenfeld Nathalie (2018): Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der Intelligenz, München: Piper, Verlagsseite mit Leseprobe online unter: https://tinyurl.com/y5wwqhl3 (letzter Zugriff: 01.11.2020).
Orlowski, Jeff (2020): The Social Dilemma (Dokumentarfilm), Trailer online unter: https://tinyurl.com/y67qpsm6 (letzter Zugriff: 01.11.2020).
Snowden, Edward (2019): Permanent Record. Meine Geschichte, Frankfurt am Main: Fischer.
Spinoza (2019): Die Ethik, Ditzingen; Reclam.
Staab, Philipp (2019): Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Berlin: Suhrkamp, Verlagsseite mit Leseprobe online unter: https://tinyurl.com/yyfao8jr (letzter Zugriff: 01.11.2020).
Tiedemann, Rolf (1983): Dialektik im Stillstand: Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Werthner, Hannes et al. (2019): Wiener Manifest für Digitalen Humanismus, online unter: https://tinyurl.com/y6aatkcy (letzter Zugriff: 01.11.2020).
Žižek, Slavoj (2020): Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein: Das ist die Lektion, die das Coronavirus für uns bereithält, in: Neue Zürcher Zeitung online, 13.03.2020, online unter: https://tinyurl.com/y3ukklag (letzter Zugriff: 01.11.2020).
Zolles, Christian (2016): Die symbolische Macht der Apokalypse. Eine kritisch-materialistische Kulturgeschichte politischer Endzeit, Berlin: De Gruyter Oldenbourg.