Eine Sozialunion als Zukunft für Europa?
Alexander Friedrich lebt und arbeitet seit neun Jahren in Brüssel, wo er zuerst im Verbindungsbüro der Stadt Wien gearbeitet hat und nun das Europabüro der Volkshilfe Österreich leitet. Er vertritt neben der Volkshilfe Österreich auch die drei deutschen Wohlfahrtsverbände Arbeiterwohlfahrt (AWO), Arbeiter Samariter Bund Deutschland (ASB) und den Sozialverband Deutschland (SoVD). Alexander Friedrich ist Lehrgangsleiter des Lehrgangs Wien in Europa.
Die Coronakrise hat uns deutlich aufgezeigt, dass die Krisen und Probleme unserer heutigen Zeit nicht mehr im Alleingang gelöst werden können. Zum Beginn der ersten Lockdowns im März 2020 haben viele Staaten, auch in der Europäischen Union, ihre Grenzen dicht gemacht und versucht, alleine mit der aufkommenden Pandemie fertig zu werden. Dies ist, wie wir wissen, in den meisten Fällen schief gegangen, bald waren besonders stark betroffene Länder, deren Intensivstationen überfüllt waren, auf die Hilfe der europäischen Nachbarstaaten angewiesen. Letztlich konnte man sich auf Europäischer Ebene auch darauf einigen, gemeinsame Lösungen zur Bekämpfung des Coronavirus und der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Lockdowns zu suchen. So wurde im Juli 2020 das bisher größte finanzielle Hilfsprogramm der EU von den 27 Staats- und Regierungschef*innen beschlossen, mit welchem die EU-Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftssysteme unter Beachtung von klimapolitischen Zielvorgaben wieder aufbauen können.
Die Welt hat sich verändert. Durch Errungenschaften wie die Digitalisierung und die immer größer werdende Mobilität der Menschen machen die meisten Entwicklungen keinen Halt mehr an nationalen Grenzen. Dies gilt auch für sozialpolitische Herausforderungen. So trifft der demographische Wandel, sprich die immer älter werdende Bevölkerung in Europa nicht ein einzelnes Land, sondern ist überall Faktum. Das bedeutet auch, dass in Zukunft mehr und mehr Menschen Pflegeleistungen in Anspruch nehmen müssen. Schon jetzt herrscht europaweit ein großer Fachkräftemangel und Länder wie Österreich oder Deutschland werben Pflegepersonal aus dem osteuropäischen Ausland an, wo aber ebenso ein Mangel an Pflegefachkräften herrscht. Armut, insbesonders Kinderarmut ist auch in westeuropäischen Staaten ein weit verbreitetes Problem und all diesen Menschen muss geholfen werden. Sozialpolitik bedeutet gesamtgesellschaftliche Solidarität, Europa bedeutet Solidarität.
Viel zu lange war die Europäische Union, das größte Friedensprojekt unserer Zeit, nicht primär für die Bürger*innen, sondern für die großen Unternehmen da. Freilich, auch profitiert die europäische Bevölkerung vom Binnenmarkt, von den vier Grundfreiheiten, von der gemeinsamen Währung und vielen anderen Aspekten des gemeinsamen Binnenmarkts. Die Europäische Union muss aber in erster Linie für ihre Bürger*innen da sein und nicht ausschließlich für die Wirtschaft. Mit der 2014 ins Amt gekommenen Kommission von Jean-Claude Juncker, dem ehemaligen Finanz- und später Premierminister Luxemburgs und gleichzeitig Vorsitzenden der Euro-Gruppe, hat hier auch ein erstes großes Umdenken stattgefunden.
Europäische Sozialpolitik war auch schon vor der Kommission Juncker ein wichtiges Thema für viele Interessensvertreter*innen in Brüssel. Vor allem auf Druck der Gewerkschaften konnten viele Verbesserungen für Arbeitnehmer*innen erreicht werden, insbesondere in den Bereichen Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Arbeitszeit und gerechte Entlohnung. Aufgrund des sogenannten Subsidiaritätsprinzips hat die Europäische Union aber nicht in allen Politikbereichen die Befugnis, Gesetze zu erlassen. Große Politikbereiche wie die Gesundheitspolitik, die Bildungspolitik und auch die Sozialpolitik sind nach wie vor nationalstaatliche Angelegenheiten der Mitgliedstaaten. Auf EU-Ebene können daher nur indirekt legislative Maßnahmen gesetzt werden, wie zum Beispiel im Arbeitsrecht, wo die EU durchaus über Kompetenzen verfügt, oder über die gezielte Vergabe von Fördermitteln. Und gerade im Bereich der Vergabe von Fördermitteln hat sich in den letzten Jahren bereits einiges zum Positiven entwickelt. Zwar kann die EU in gewissen Bereichen keine legislativen Maßnahmen setzen, wohl kann aber entschieden werden, wofür die vielen Milliarden an EU-Fördermitteln ausgegeben werden dürfen und welche Projekt finanziert werden dürfen und welche nicht.
Jean-Claude Juncker hat 2017 mit der Proklamation der “Europäischen Säule Sozialer Rechte” eine wichtige Grundlage für die künftige europäische Sozialpolitik gelegt.
Die Europäische Säule Sozialer Rechte umfasst drei Kapitel mit sozialen Grundrechten, die allen Bürger*innen gewährt werden sollen für insgesamt 20 Bereiche:
- Kapitel I: Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang
(Allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen, Gleichstellung der Geschlechter, Chancengleichheit, Aktive Unterstützung für Beschäftigung) - Kapitel II: Faire Arbeitsbedingungen
(Sichere und anpassungsfähige Beschäftigung, Löhne und Gehälter, Informationen über Beschäftigungsbedingungen und Kündigungsschutz, Sozialer Dialog und Einbeziehung der Beschäftigten, Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, Gesundes, sicheres und geeignetes Arbeitsumfeld und Datenschutz) - Kapitel III: Sozialschutz und soziale Inklusion
(Betreuung und Unterstützung von Kindern, Sozialschutz, Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Mindesteinkommen, Alterseinkünfte und Ruhegehälter, Gesundheitsversorgung, Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Langzeitpflege, Wohnraum und Hilfe für Wohnungslose, Zugang zu essenziellen Dienstleistungen)
Nach der Europäischen Säule Sozialer Rechte wurden noch weitere, für die europäische Sozialpolitik maßgebliche Dokumente verabschiedet, wie zum Beispiel die Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen oder die Europäische Kindergarantie, die jedem in der EU lebenden Kind Schutz vor Armut gewähren soll.
All diese Dokumente gelten als Grundlage für die sozialpolitische Arbeit in der EU in den kommenden Jahren und sind auch ausschlaggebend für die Förderschwerpunkte bei der Vergabe von EU-Geldmitteln. Durch die eingangs erwähnte Tatsache, dass unsere Gesellschaften immer näher zusammenkommen und die Globalisierung, vor allem innerhalb der EU, immer weiter voranschreitet, wird sich früher oder später die Frage stellen müssen, wie die europäische Union der Zukunft aussehen soll. Wollen wir als Europäer*innen eine große, solidarische Gesellschaft sein, die gemeinsam die Herausforderungen, die noch auf uns zukommen werden, bewältigen kann oder wollen wir zurück in die Nationalstaatlichkeit und uns selbst die nächsten sein, so wie es rechtspopulistische Politiker*innen stets fordern? Eine starke, zukunftsfähige und solidarische Europäische Union muss daher auch eine Sozialunion sein, deshalb werden wir sehr bald darüber diskutieren müssen, wie noch mehr im Bereich der Sozialpolitik zum Wohle aller Bürger*innen zusammengearbeitet werden kann und ob es vielleicht eines Tages mehr Kompetenzen in diesem Bereich auf europäischer Ebene oder gar die Vereinigten Staaten von Europa geben soll.