Kultur, Literatur und Politik – von Dieter Kramer
Dass Sprache und menschliche Symbolwelten in einer gegebenen Kultur die zentralen Medien der Kommunikation sind, arbeitet Dieter Kramer in seinem Essay heraus, der deshalb auch der Literatur eine eminente kulturpolitische Bedeutung beimisst. Denn es sind oft literarische Produkte, die gesellschaftliche Anstöße für Neuorientierungen geben.
Kultur und Künste
Im deutschen Sprachgebrauch werden im Alltag unter Kultur gern die Künste, das kulturelle Erbe und die Institutionen zu deren Pflege verstanden. Sinnvoller ist es, einen erweiterten Kulturbegriff zu verwenden: Er soll sich nicht auf Alles und Jedes beziehen, wohl aber auf die „ideelle Lebensgrundlage“ der „ganzen Lebensweise“ samt der im Leben einer Gesellschaft der Gleichen entwickelten und sich dynamisch anpassenden Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen. Seit der UNESCO-Kulturkonferenz von Mexiko 1982 wird international gern eine von Anthropologie und Ethnologie geprägte Definition benutzt, in der Kultur als „Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen wird, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und die über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst.“
Wie Menschen leben wollen und worin sie die Qualität ihres Lebens sehen, das entscheidet darüber, welche Ziele sie sich setzen und wie sie mit ihren Möglichkeiten und Ressourcen umgehen. Die heutigen Rechtsstaaten in Europa sind aus den sozialen und demokratischen Bewegungen der letzten Jahrhunderte hervorgegangen und sie haben Wurzeln im Erbe von Antike, Judentum, Christentum, Islam, Humanismus, Aufklärung und Klassik. Die davon geprägte Wertewelt ist verantwortlich für die in den Verfassungen formulierten politischen und sozialen Grundrechte.
Vom Staat, den sie mit ihren Steuern finanzieren, erwarten die Menschen Leistungen, die zu ihrer Lebensqualität beitragen. Dazu gehören öffentliche Sicherheit, Infrastruktur und eine gesunde natürliche Umwelt, ein öffentliches Gesundheitssystem, eingeschlossen die Hilfe zur Sicherung der mentalen Gesundheit. Die Menschen erwarten Rahmenbedingungen für die Chance, durch die eigene Arbeit ein ausreichendes finanzielles Einkommen und auskömmliche Alterssicherung sowie bezahlbares anständiges Wohnen zu gewinnen. Zur Infrastruktur gehören dabei immer auch lebenslange Bildungsmöglichkeiten. In einer sich verändernden Welt suchen Menschen Chancen, sich immer wieder neue Arbeits- und Alltagstechniken anzueignen.
Lebendige kulturelle Milieus für alle
Die Förderung des kulturellen Lebens und die Pflege des kulturellen Erbes gehören demgemäß wie Bildung und Gesundheit zu den sozialen Grundrechten und sind für den Sozialstaat im Rahmen der „allgemeinen Daseinsfürsorge“ eine Verpflichtung. Lebendige kulturelle Milieus für alle tragen bei zum Zusammenhalt der Gesellschaft. „Kultur für alle“ ist daher kein sozialromantisches Programm, sondern gehört zu den Leistungen des Sozialstaates. Mit einem lebendigen, allen zugänglichen kulturellen Leben und einem breiten Bildungsangebot auf allen Ebenen samt einer vielfältig entwickelten Medienlandschaft wissen mündige Staatsbürger*innen auch eher völkische oder „identitäre“ Ideologien, Verschwörungstheorien und fake news richtig einzuschätzen. Denn in lebendigen kulturellen Milieus werden Toleranz, Diskurs, demokratische Verfahren und wechselseitige Akzeptanz eingeübt. Wie wichtig das für die Lebensqualität ist, erkennt man angesichts der Verrohung vieler Umgangsformen.
Lebensqualität wird gefördert durch die Vielfalt von Beziehungen der Individuen zu ihren Mitmenschen sowie zu der sie umgebenden natürlichen und geschichtlichen Welt. Sie wächst mit der Entfaltung der Qualitäten und Möglichkeiten des eigenen Körpers, der Sinne, der emotionalen und rationalen Ausdrucksfähigkeit. Dafür Infrastruktur und Gelegenheiten zu schaffen ist Aufgabe der Kulturpolitik. Angebote allein reichen nicht aus, es muss auch Gelegenheiten und Anregungen geben für die Entfaltung solcher Beziehungen und zur aneignenden Auseinandersetzung mit Künsten und Wissenschaften. Eigene ästhetisch-kulturelle Aktivitäten etwa mit Musik, Schauspiel, bildender Kunst oder Schreiben erleichtern dies und verdienen Förderung, ebenso breit gestreute Formen der wissenschaftsnahen Erkundung von Welt und Umwelt.
Künste und lebendige kulturelle Milieus dürfen daher weder Ware noch Luxus sein. Keiner einzelnen sozialen Gruppe sollen sie bevorzugt zur Verfügung stehen. Es geht in der Kulturpolitik also nicht um repräsentative Umwelten für selbsternannte Eliten des Reichtums und der Macht, oder um Institutionen und Leistungen, mit deren Förderung Unternehmen ihr Image pflegen und ihren Gewinn steigern können. Es geht auch nicht um eine solche „Kreativwirtschaft“, die nichts weiter vollbringt als zur Sicherung des selbstzweckhaften Wachstums der kapitalistischen Marktgesellschaft beizutragen. Soziale und sozialkulturelle Innovationen sind wichtiger als wirtschaftlich nutzbare Start-ups. Kultur und Künste dürfen nicht nach ihrer Umwegrentabilität beurteilt oder nur als Instrumente von Identitätspolitik und Städtewerbung betrachtet werden. Sie sind nicht das Sahnehäubchen der Politik, sondern notwendiges Vitamin und Salz in der Suppe, auch Hormon und Katalysator.
In den europäischen Einwanderungsgesellschaften leben Menschen mit unterschiedlichen kulturellen (religiösen, milieuspezifischen, regionalen, sexuellen) Prägungen gemeinschaftlich in einem Territorium. Sie kommunizieren notwendigerweise fortwährend miteinander. Dabei sind es nicht „Kulturen“ oder „Identitäten“, die in Dialog treten, sondern immer von unterschiedlichen Traditionen geprägte Individuen. Sie sind nie auf Dauer in einem engen Käfig einer eigenen Kultur gefangen, sondern sind lernfähig. Sie können sich ändern und tun dies auch immer. Rassismus, Fremdenfeindschaft und Intoleranz zerstören das Zusammenleben und die Lebensqualität.
Symbolwelten und Sprache
„Man kann mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß von allen Aspekten der menschlichen Kultur die Sprache als erste eine hochentwickelte Form erhielt und daß ihre Vervollkommnung eine Voraussetzung für die Entwicklung der Kultur als Ganzes ist.“ Das schreibt der einflussreiche nordamerikanische Sprachwissenschaftler Edward Sapir im Jahr 1937.
Mit der Sprache begreifen und gestalten die Menschen ihre Welt. Wenn Menschen im „Sozialisationsprozess“ sich in die Gewohnheiten der Gemeinschaft ihrer Mitmenschen einleben, dann dient „schon das Vorhandensein einer gemeinsamen Sprache als besonders mächtiges Symbol der sozialen Solidarität all derer …, die diese Sprache sprechen.“ (Sapir). Sprache ist Teil der Kultur einer Gesellschaft, eingeschlossen sind da auch die Mundarten, die Ausdruck und Ergebnis des kreativen Umganges mit der Lebenswelt sind. Mit der Sprache werden auch jene Symbolwelten gestaltet, die neben den Worten und Begriffen der Sprache verbindendes Eigentum einer Gemeinschaft sind: Redewendungen, Sprichwörter, Motive von Märchen und Sagen gehören dazu. Es sind von Vielen gekannte „zitierfähige“ Bilder: Wenn sie in der Sprache, egal ob mündlich oder gedruckt, verwendet werden, wecken sie bei den Adressaten vertraute Vorstellungen, die Teil der Wertewelt werden. Deswegen legen Nationalstaaten besonderen Wert auf solche von allen verstandene Symbolwelten – mythische Gründerfiguren und Helden, Ahnherren, aber auch historische Repräsentanten zentraler Wertvorstellungen wie Wilhelm Tell.
Sprache und geteilte Symbolwelten ermöglichen Streitkultur. Sie bändigen auch den Streit, sobald man sich darum bemüht, die anderen zu „verstehen“, nämlich nachzuvollziehen, was jeweils gemeint ist. Bild-und Symbolwelten schaffen Bezüge, sie assoziieren Werte. Sprichwörter, vertraute gesungene Lieder, auswendig gelernte Gedichte beziehen sich darauf.
Das Buch und die Literatur
Und damit sind wir bei der Literatur. Was war (wäre) die Welt von Kindern und Heranwachsenden ohne die Möglichkeit, sich in Buchwelten zu versenken? Bei allen Qualitäten und emotionalen Bezügen, die viele von uns mit dem gedruckten Wort und dem papiernen Buch verbinden, kann und muss man als deren legitime Nachfolger Comics, Hörbücher und auch Computerspiele akzeptieren. Vor den Büchern gab es schließlich auch schon Überlieferungen und Phantasiewelten, die mündlich überliefert waren, aber auf lange Tradierung zurückblickten: Die Welt der antiken griechischen Kolonien im ganzen Mittelmeer wurde zusammengehalten durch Homer mit Ilias und Odyssee, die als weitgehend stabile mündliche Überlieferung überall präsent waren.
Der Fundus einer „Nationalliteratur“ trägt zur Einheit, zum einheitlichen Wertesystem bei. Das ist in der deutschen Klassik erkennbar, in der die literarischen Produkte der Intellektuellen auch den Weg in die populären Welten fanden. Die damals „entdeckten“ Volkslieder sind häufig beeinflusst von den Werken der Literaten aus der Renaissance und Klassik. Aber Zeiten enger Kontakte zwischen den sozialen Milieus auf dem Gebiet der ästhetisch-kulturellen Ausdrucksformen wie die Klassik sind die Ausnahme. Viel häufiger gibt es in Klassengesellschaften Milieus mit mehr oder weniger deutlich unterschiedenen Symbolwelten. Gewerkschaftsbibliotheken waren von Anfang an Teil der politischen Bewegung der Arbeiter*innen. Die Werber der Büchergilde Gutenberg waren einst in den Betrieben unter den Belegschaften präsent. Sie traten nicht auf als Propagandisten einer sektiererhaften eigenen Bücherwelt, sondern die von ihnen verbreiteten Texte waren verbunden mit der nationalen Literatur. Immer legten sie besonderen Wert auf ihre humanen, demokratischen und herrschaftskritischen Dimensionen. Die Volksbildungsbewegung versuchte seit dem späten 19. Jahrhundert über die Förderung von Büchereien bürgerliche Werte und Qualitätsvorstellungen zu verbreiten.
Für viele Leser*innen sind Bücher immer noch unverzichtbar, sie bereichern, sie bedeuten Lebensqualität. Und sie nehmen immer auch Teil an der Ausgestaltung dessen, was im demokratischen Staat die „ideelle Lebensgrundlage“ der mehr oder weniger geteilten Werte ist. Damals wie heute gibt es trotz aller Bemühungen wie denen der Stiftung Lesen in Deutschland und ähnlichen Initiativen anderswo keinen Kanon von allseits bekannten Literaturprodukten, auch nicht für Schulen. Es gibt auch keine überall aufgenommenen und diskutierten „Literaturereignisse“, selbst wenn die Feuilletons so tun als gebe es sie. Günter Wallraff war mit seinen Büchern zur Arbeitswelt früher einmal in (fast) allen sozialen Milieus ein wahrgenommenes „Ereignis“. In der ehemaligen DDR gelangten Autor*innen wie Christa Wolf auch mit nur „unter dem Ladentisch“ präsenten Büchern zu ähnlicher Bedeutung in West- und Ostdeutschland. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig Literatur für die Entwicklung eines öffentlichen Bewusstseins ist, das dann auch Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft ausübt.
Man kann solche „Leseereignisse“ nicht beliebig produzieren. Analog zur Tendenz der Vereinzelung der Individuen begünstigt die neoliberale Marktgesellschaft kaum solche von vielen geteilte Literaturerlebnisse, deswegen gibt es auch keine breite literarische Diskussion, kaum über die Bildungsmilieus hinaus zitierfähige und gekannte literarische Produkte zur Auseinandersetzung mit der „Postwachstumsgesellschaft“. Wie sollte es auch in einer Gesellschaft dazu kommen können, in der es immer mehr Analphabet*innen gibt und in der Migrant*innen aus ganz anderen kulturellen Traditionen ihre eigenen Symbolwelten mitbringen.
Schluss
Aber ist nicht Vielfalt ohnehin eine besondere Qualität? Solange noch möglichst viele lesen und lesen können oder über ähnliche Formen der Wahrnehmung von relevanten Symbolwelten verfügen (auch im Internet), gibt es immer wieder die Chance, dass ein literarisches Produkt Anstöße für Neuorientierungen gibt. Vielleicht aber gibt es doch auch immer noch Symbolwelten, von denen nahezu alle direkt oder indirekt Kenntnis nehmen? Die zahllosen Dystopien, die negativen Zukunftsvorstellungen, Slogans aus Werbung, Texte und Kürzel aus populärer Rap- und Pop-Musik, Filme und Fernsehfolgen wie Star Wars – gehören sie nicht zum Allgemeinbesitz? Und sind denn nicht sogar Musikzitate von Beethoven oder Mozart über die Werbung allgemein verbreitet?
Literatur
Abendroth, Wolfgang (1967): Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie (Soziologische Texte 47), Berlin: Neuwied.
Röbke, Thomas (1993): Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik. Erklärungen und Dokumente 1972–1992 (Edition Umbruch, Bd. 1), Hagen/Essen: Kulturpolitische Gesellschaft, darin: Die Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik 1982, 55–63.
Hoffmann, Hilmar (1981): Kultur für alle, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer.
Kramer, Dieter (2012): Kulturpolitik neu erfinden. Die Bürger als Nutzer und Akteure im Zentrum des kulturellen Lebens (Edition Umbruch. Texte zur Kulturpolitik 28), Bonn: Kulturpolitische Gesellschaft; Essen: Klartext.
Sapir, Edward (1966): Die Sprache, in: Kulturanthropologie, hg. v. Wilhelm Emil Mühlmann und Ernst W. Müller, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1966, 108–136.
DIETER KRAMER habilitierte an der Universität Wien im Fach Europäische Ethnologie und war u. a. Oberkustos im Museum für Völkerkunde (jetzt Weltkulturen Museum) der Stadt Frankfurt am Main.