Privatisierung und Rekommunalisierung öffentlicher Dienste im Globalen Süden. Erfahrungen in Chile und Afrika – von Alexandra Strickner
Alexandra Strickner ist politische Ökonomin und Mitbegründerin von Attac Österreich. Sie beschäftigt sich seit 20 Jahren beruflich mit Handels- und Investitionspolitik, sowie der Entwicklung und Förderung wirtschaftlicher Alternativen zur neoliberalen Globalisierung. Sie hat die Stopp GATS, TTIP Stoppen und “Anders Handeln” Plattform mit initiiert und zwei Kongresse zum Thema “Das gute Leben für alle” in den Jahren 2015 und 2017 an der Wirtschaftsuniversität Wien mitorganisiert (www.guteslebenfueralle.org).
Sie arbeitet dort am Institut für Multi-Level-Governance and Development und ist verantwortlich für Theorie-Praxis-Dialoge. Alexandra Strickner ist Vortragende im Lehrgang Daseinsvorsorge in Wien.
Einleitung
In den Ländern des globalen Südens begann der Ausverkauf öffentlicher Dienste in den 1970er bzw. den 1980er Jahren. Chile war das erste Land mit umfassenden Privatisierungsprogrammen, die nach der Ermordung des sozialistisches Präsidenten Salvador Allende und den Putsch durch den General Augusto Pinochet ab 1973 umgesetzt wurden. Der Internationale Währungsfond und die Weltbank spielten dabei eine wichtige Rolle: sie stellten Geld und Kredite zur Finanzierung der Staatsschulden nur im Gegenzug zu sogenannten „Strukturanpassungsprogrammen“ – dem Codewort für Privatisierungen und den Abbau von anderen sozialstaatlichen Leistungen – bereit.
Verkauft wurden u.a. die Wasser- und Energieversorgung, öffentliche Bahngesellschaften sowie kommunale Dienste wie z.B. Öffis und Müllabfuhr. Auch das Bildungs- oder Gesundheitssystem wurde in manchen Ländern liberalisiert oder privatisiert. Ab den 1990er Jahren wurden auf globaler wie auch bilateraler und bi-regionaler Ebene Handels- und Investitionsabkommen verhandelt und verabschiedet. In diesen wurde Liberalisierungen des Dienstleistungssektors sowie eine Paralleljustiz in völkerrechtlich verbindlichen Verträgen festgeschrieben, die die Rückführung einmal privatisierter Infrastrukturen und Dienstleistungen in die öffentliche Hand enorm erschwert und verteuert. So trat mit der Etablierung der Welthandelsorganisation 1995 das globale Dienstleistungsabkommen – GATS (General Agreement on Trade in Services) in Kraft. Darin ist festgehalten, welche Dienstleistungssektoren die unterzeichnenden Länder jeweils für ausländische Investoren öffnen – unter der Bedingung diese Investoren gleich wie inländische Investoren zu behandeln. Dienstleistungen im öffentlichen Interesse sind zwar davon ausgenommen. Die Kriterien dafür sind jedoch so eng formuliert, dass nur ausschließlich öffentlich erbrachte Leistungen, wie z.B. die Polizei oder die Justiz darunter fallen. Beim GATS-Abkommen haben die Mitgliedsländer der WTO in eigenen Listen all jene Sektoren niedergeschrieben, die sie für ausländische Investoren öffnen. In bilateralen Handelsabkommen der neueren Generation – wie z.B. das Abkommen der EU mit Kanada – sind nur mehr jene Dienstleistungssektoren von der Marktöffnung ausgenommen, die explizit in einer Liste niedergeschrieben werden.
Neben Handelsabkommen wurden ab den 1990er Jahren eine Vielzahl von Investitionsabkommen zwischen Industrieländern und Ländern des globalen Südens unterzeichnet. Ausländischen Investoren erhalten damit ein Sonderrecht: sie können Staaten im Rahmen einer Paralleljustiz auf hohe Schadenersatzsummen klagen, wenn sie sich durch neue Gesetze oder Regulierungen direkt oder indirekt enteignet sehen. Rekommunalisierungen oder gesetzliche Maßnahmen, die die Qualität der Dienstleistungen im Interesse der Menschen verbessern oder leistbar halten, werden so entweder erschwert, massiv verteuert oder sogar verhindert.
Die Auswirkungen dieser Politik für die Menschen – ob Nutzer*innen dieser Dienstleistungen und Infrastrukturen oder Beschäftigte – und die Umwelt sind katastrophal – wie die Beispiele sichtbar machen. Aber die Menschen in den Ländern des globalen Südens wehren sich und kämpfen für die Wiederaneignung der öffentlichen Dienstleistungen.
Fünf Jahrzehnte Privatisierungen öffentlicher Dienste in Chile und deren Wiederaneignung[1]
Chile ist jenes Land, in. dem die Menschen die Auswirkungen der Privatisierungen seit fast fünf Jahrzehnten erleben. Privatisiert wurden öffentliche Unternehmen im Bereich strategischer Infrastrukturen wie das Transportwesen, Telekommunikation, Energie oder im produktiven Sektor, der Sozialstaat (z.B. Pensionen), das Gesundheits- und das Bildungswesen, die Wasserver- bzw. Abwasserentsorgung und auch Nutzungsrechte für Gemeingütern wie Land, Wasser und Mineralien. Eine Handvoll vorwiegend transnationaler Unternehmen kontrolliert heute diese Wirtschaftsbereiche. Begleitet wurden die Privatisierungen mit umfassenden Änderungen des Arbeitsrechts und des Streikrechts. Entlassungen wurden erleichtert und die Mitsprache von Gewerkschaften in der Verwaltung der Unternehmen erheblich reduziert. Gegner*innen dieser wirtschaftlichen Veränderungen und der Politik der Diktatur erlebten massive politische Repression. Die fortan privat oder kommerziell bereit gestellten Dienstleistungen bedeuten für die Menschen: höhere Preise, schlechtere Qualität, schlechtere Arbeitsbedingungen und weniger politische Teilhabe.
Die Wasserprivatisierung in Chile: ihre Folgen und die Kämpfe um Rekommunalisierung
Der Prozess der Wasserprivatisierung in Chile begann 1981 noch unter der Diktatur von Augusto Pinochet. Dabei wurden privaten Wasserrechte gestärkt, ein marktorientiertes Zuteilungssystem eingeführt und die staatliche Aufsicht reduziert. Dieses neoliberale Modell für das Wassermanagement wurde in der Folge von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds auch in anderen Ländern stark gefördert und hat weltweit den Umgang mit Wasser verändert. Wasser wurde zunehmend ein Objekt internationaler Finanzspekulationen.
Pinochets politisches Ende im Jahr 1990 hat nicht das Ende der Privatisierungsprozesse eingeläutet, sondern es kam zu weiteren Schritte zur Vertiefung dieses Prozesses. 1998 wurde ein Gesetz verabschiedet, das internationalen Firmen erlaubt, die Wasserversorgung des Landes aufzukaufen. Heute ist 90% der Trinkwasserversorgung in Chile in den Händen von vier Akteuren: der französischen Suez Gruppe mit ihrer chilenischen Sub-Tochter Aguas Andinas, Aguas de Barcelona, Marubeni und dem Pensionsfond der Professor*innen von Ontario in Kanada[2].
Die Folgen: Die Chilen*innen zahlen einen der höchsten Tarife für Trinkwasser in ganz Lateinamerika. Millionen von ihnen sind in Städten wie Santiago oder Osorno regelmäßig tagelang ohne Leitungswasser z.B. wenn es heftig regnet. Zugleich sind dann die Straße aufgrund der maroden Infrastruktur überflutet. Auch Wasserknappheit ist ein immer häufigeres Thema. Laut Prognosen wird die Wasserverfügbarkeit in der Hauptstadt Santiago bis 2070 voraussichtlich um 40% sinken.
Widerstand und Wiederaneignung der Wasserversorgung in Chile
Seit den Studierendenprotesten 2011 gegen das kommerzialisierte Hochschulsystem in Chile, hat sich die Zahl von sozialen Bewegungen, die gegen die negativen Folgen der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen protestieren, vervielfacht. Die politischen Kräfte des Widerstands entwickeln auch konkrete Alternativen und setzen diese um. Der Widerstand gegen das neoliberale Wirtschaftssystem hat zuletzt im Oktober einen neuen Höhepunkt erreicht. Millionen von Menschen gingen in ganz Chile auf die Straße, um gegen soziale Ungleichheiten und prekäre Lebensbedingungen ihre Stimme zu erheben.
Die Rückeroberung des Wassers und des Lebens ist der Fokus von zwei soziale Bewegungen, die in den 2010er Jahren entstanden: das „Movimiento por la Recuperación del Agua y la Vida[3] – die Bewegung für die Rückeroberung des Wassers und des Lebens“ – ein Vernetzungsraum sozialer, territorialer und ökologischer Organisationen, NGOs, ländlicher Trinkwasserkomitees und Gewerkschaften von Sanitärunternehmen, mit dem Ziel die Wasserversorgung in den öffentlichen Besitz zurückzuführen; und MODATIMA[4] – die soziale Bewegung für die Verteidigung des Zugangs zu Wasser, Land und Umweltschutz. Diese setzt sich für die Verteidigung der Rechte der Bauern und Bäuerinnen, Arbeiter*innen und Einwohner*innen ein und entstand zuerst in der Provinz Petorca (Region Valparaiso). Seit den neunziger Jahren sind die Menschen dort mit dem Diebstahl und der Hortung von Wasser durch agroindustrielle Unternehmen konfrontiert. Daraus entstand die Forderung nach “Gerechtigkeit in den Flüssen”, da heute Wasserdiebstahl und -missbrauch der Eliten und Konzerne durch Verfassungsgarantien und das Wassergesetzbuch geschützt ist. Neben der Rückführung der Wasserversorgung in die öffentliche Hand, um so allen Menschen Zugang zu sauberem und leistbarem Wasser zu ermöglichen, ist auch die Frage der Kontrolle der Wasserressourcen und Wasserknappheit ein Thema. Denn die Auswirkungen der Klimakrise und der Übernutzung von Wasser durch Konzerne und Unternehmen in Chile und die daraus resultierenden Konflikte nehmen zu.
Gegenwärtig gibt es den ersten Rekommunalisierungsprozess von Wasser in der Stadt Osorno, in der rund 150.000 Menschen leben. Aufgrund von Qualitätsproblemen und zu hohen Preisen kam es zu großen Protesten der Einwohner*innen. Daraufhin organisierte die Stadt ein Bürger*innenreferendum. 90% der Wähler*innen stimmten für den Vorschlag der Rekommunalisierung. Nun soll der Vertrag mit der Suez Gruppe (Agbar und Aguas Andinas) beendet werden. Deshalb droht diese nun damit, eine Schadenersatzklage im Rahmen des privaten Investor-Staat-Schiedsverfahren (ISDS) anzustreben[5]. Für die Suez-Gruppe sind die Wasserversorgungsunternehmen in Chile Cash Cows und sie fürchtet sich zu Recht, dass das Beispiel Osorno zu weiteren Rekommunalisierungen führen könnte. Das wollen sie verhindern oder sich teuer abkaufen lassen. Bereits Anfang der 2000er Jahre hat Suez versucht, Rekommunalisierungen der Wasserversorgung in Argentinien oder in Indonesien über ISDS zu verhindern bzw. Profit daraus zu schlagen. Hier wird die Wirkmächtigkeit von Investitionsabkommen sichtbar.
Recoleta: Wiederaneignung und soziale Innovation bei Stadtreinigungsdiensten, medizinischer Versorgung und Wohnraumbeschaffung
Neben sektorspefizischen sozialen Bewegungen für die Rekommunalisierung öffentlicher Dienstleistungen, gibt es weitere Erfahrungen und soziale Innovationen auf kommunaler Ebene. Ein Beispiel dafür ist die Gemeinde Recoleta[6], die Teil der Metropolregion Santiago de Chile ist. Dort leben rund 160.000 Menschen aus unterschiedlichen Ländern Südamerikas und der Karibik. Die Armutsrate in Recoleta ist doppelt so hoch im Vergleich zur restlichen Metropolregion Santiago. Seit 1991 gibt es einen eigenen Gemeinderat. Seit 2012 ist der Kommunist Daniel Jadue Bürgermeister. Er ist mit dem Versprechen angetreten, die kommunalen Dienstleistungen in die öffentliche Hand zurückführen. Dieses Versprechen hat er eingelöst und dabei neue Formen des „Öffentlichen“ zusammen mit den Bewohner*innen entwickelt.
Arbeiter*innengenossenschaft für Stadtreinigungsdienste
In den 2000er Jahren war das private Unternehmen Servitrans für die Straßenreinigung, die Reinigung von Parks und öffentlichen Gebäuden zuständig. Die Mitarbeiter*innen des Unternehmens kritisierten die Stadtregierung für die prekären Arbeitsbedingungen, die Bürger*innen bemängelten den schlechten Service. 2016 beschloss die Gemeinde die Gründung der Genossenschaft „Jatu Newen“, um dieser forthin die Konzession für Reinigungsdienstleistungen zu übertragen. Die Genossenschaft wurde von ehemaligen Arbeiter*innen von Servitrans gegründet. Heute arbeiten dort 105 Menschen: Mapuche und Aymara, Chilen*innen und Migrant*innen aus Kolumbien und Peru. Die Löhne und Gehälter haben sich verdoppelt und sind entlang des Prinzips gleicher Lohn für gleiche Arbeit gestaltet. Die Bürger*innen sind mit der Qualität der Dienstleistungen zufriedener.
Von der privaten Apotheke zur Volksapotheke
In Chile versorgen private Apotheken die große Mehrheit der Bevölkerung mit Medikamenten. Preisregulierung durch den Staat gibt es nicht. Drei pharmazeutische Unternehmen teilen sich 90 Prozent des Marktes. Sie wurden bereits mehrfach wegen Preisabsprachen verurteilt. Für viele Menschen sind Medikamente daher sehr teuer oder sogar unerschwinglich. Das öffentliche Gesundheitssystem bietet nur Medikamente für eine begrenzte Anzahl schwerer Krankheiten mit hoher Sterblichkeitsrate. Vor dem Hintergrund dieser Situation hat die Gemeinde von Recoleta 2015 die erste “Volksapotheke” des Landes etabliert. Sie bietet leistbare Medikamente für die Bewohner*innen der Gemeinde, die im öffentlichen Gesundheitssystem behandelt werden. Sie orientiert sich beim Einkauf von Medikamenten an den Bedürfnissen der Bewohner*innen und stellt über ein Subventionssystem sicher, dass auch Menschen mit geringem Einkommen Zugang zu leistbaren Medikamenten haben. Vier Jahre nach der Etablierung der Volksapotheke haben sich die monatlichen Ausgaben der Bewohner*innen für Medikamente erheblich reduziert – in einigen Fällen bis zu 70 Prozent. Andere Gemeinden haben dieses Modell kopiert. Zwischen 2015 und 2018 wurden 40 weiterer solcher Apotheken gegründet. Mittlerweile gibt es in 80 weiteren Gemeinden Volksapotheken, die sich im chilenischen Verband der Volksapotheken koordinieren.
Die Volks-Immobilienagentur von Recoleta
Der Wohnungsbau in Chile wird von privaten Investoren dominiert. Der Staat beteiligt sich nur durch eine stark eingegrenzte Politik von Subventionen für die ärmsten Familien, damit sie Zugang zu kostengünstigen Wohnungen haben. Das hat zur Folge, dass Menschen mit den geringsten Einkommen sich für kleine, schlecht gebaute Häuser entscheiden, die sich meist am Stadtrand befinden. Das hat die städtische Ungleichheit vertieft. Im Jahr 2018 schuf die lokale Regierung von Recoleta die erste chilenische „Volks-Immobilienagentur“. Sie bietet erschwinglichen Wohnraum für die ärmsten Familien der Gemeinde. Die Gemeinde bildete dabei eine Partnerschaft mit dem Ministerium für Wohnungswesen und Städtebau, und beteiligt sich an der Finanzierung des Baus neuer Wohnungen. 2018 startete der Bau eines ersten Gemeindebaus mit 38 Wohnungen, die 55m2 groß sind und 2020 fertig gestellt werden. Diese Wohnungen werden an arme Familien vermietet. Die Miete wird weniger als 25% des Haushaltseinkommens der Familien betragen. Weitere 90 Gemeindewohnungen sind geplant. Diese Initiative ist für Chile sehr bedeutend, weil Recoleta die erste Gemeinde ist, die seit dem Ende Militärdiktatur das Wohnungsproblem in Angriff nimmt und so die Wohnungspolitik in Chile verändert. Auch hier gibt es bereits weitere Gemeinden, die begonnen haben nach diesem Modell Gemeindewohnungen zu bauen.
Die offene Universität von Recoleta
Der Bildungssektor wurde stark privatisiert. Fast 85% der Studierenden in Chile gehen heute auf eine Privatuni. Die Kosten für die Uni-Ausbildung sind sehr hoch – angesichts geringer Einkommen und hoher Lebenshaltungskosten. Ein Psychologiestudium an einer Privatuni bis kostet bis zu 8.400 US$ pro Jahr, ein Medizinstudium bis zu 11.000 US$. Auch in den wenigen öffentlichen Unis müssen Studierende relativ hohe Beiträge zahlen. Damit ist der Zugang zu Bildung stark eingeschränkt. Die Gemeinde von Recoleta hat 2018 die „Offene Universität von Recoleta“ (Universidad Abierta de Recoleta) gegründet, mit dem Ziel, Wissen und Bildung für ihre Bürger*innen zugänglich zu machen. Dafür kooperieren sie mit lokalen und internationalen Universitäten wie z.B. der Universität von Chile, der Universität von Santiago oder der UNESCO. Alle Menschen – unabhängig davon ob sie in Recoleta wohnen – können an den Kursen kostenlos teilnehmen. 150 Kurse werden jährlich angeboten – in den Bereichen Kunst, Sozialwissenschaften, Technik etc. Bisher haben 3.300 Menschen einen oder mehr Kurse absolviert.
Das Desaster privater Müllentsorgung in Afrika und Rekommunalisierungserfahrungen
Einer der Sektoren, der – neben vielen anderen – in Afrika privatisiert wurde, ist die Müllentsorgung. Ein Umwelt- und ein Gesundheitsthema gleichermaßen: denn nicht fachgerecht entsorgter Abfall, kann Wasser, Boden und Luft verschmutzen und so Menschen krank machen. 2012 wurden lediglich 55% des Abfalls in Afrika gesammelt. Die Konsequenz: viele Menschen waren gezwungen, ihren Abfall selbst zu entsorgen. Das passierte oft über illegale Müllhalden oder dem Verbrennen im Freien, eine enorme Belastung für die Luft und die Menschen, die diese einatmen. Abfall verschmutzt auch Flüsse, der letztlich in den Meeren landet – allen voran Plastikmüll. Der Nil und der Niger[7] gehören zu den zehn der am meisten verschmutzten Flüsse sind, die für 90 Prozent des Plastiks in den Meeren verantwortlich sind. Selbst wenn der Abfall gesammelt wird, haben viele afrikanische Länder Schwierigkeiten effektiv damit umgehen. Viele Städte haben nur eine offizielle Deponie für die ganze Stadt, die oft überfüllt ist und eine ernsthafte Gefahr für Gesundheit und Sicherheit darstellt. Von der Größe des Abfallproblems überwältigt, haben viele afrikanische Länder sich an den privaten Sektor gewandt. Doch die Privatisierung ist keine Lösung für ein effektives Abfallmanagement. Vielmehr verhindert diese eine effiziente Bereitstellung wirksamer Abfalldienstleistungen für alle. Das zeigt z.B. die Privatisierung der Abfallversorgung in Ägypten.
Die Privatisierung und Rekommunalisierung der Abfallwirtschaft in Kairo[8]
Kairo hatte bis Anfang der 2000er Jahre ein gut funktionierendes Abfallmanagementsystem. Es wurde nicht direkt von der Stadtverwaltung organisiert, sondern in den 1940er Jahren von der christlichen Gemeinschaft der Zabaleen am damaligen Stadtrand von Kairo eingerichtet. Die rund 70.000 Mitglieder der Zabaleen sortierten täglich rund 15.000 Tonnen Abfall, das sind zwei Drittel der gesamten Abfallmenge von Kairo. Dabei haben sie es geschafft bis zu 85 Prozent des Abfalls zu recyclen. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Recyclingrate der Haushaltsabfälle in der EU-27 und Norwegen im Jahr 2014 betrug 43 Prozent. Schweine sind ein wesentlicher Bestandteil des Recycling- und Sortiersystems der Zabaleen, denn ein Großteil des Abfalls in Kairo ist organisch. Dieser Abfall wird an Schweine verfüttert, die die Gemeinschaft für den Eigenkonsum hält, aber auch an Hotels und andere touristische Einrichtungen in Ägypten verkauft und so eine zusätzliche Einkommensquelle sind. Das Abfallmanagementsystem der Zabaleen war ein gutes Beispiel dafür, wie auch in Megastädten wie Kairo eine Kreislaufwirtschaft funktionieren kann. Trotz dem effizienten Abfallwirtschaftssystems der Zabaleen beschloss die Regierung Anfang der 2000er Jahre die die Abfallwirtschaft in Kairo in die Hände profit-orientierter Privatunternehmen zu geben – und so dem Beispiel von Alexandria und Gizeh zu folgen. Die Regierung wollte zudem das Stadtgebiet der Zabaleen-Siedlung, die als “Müllstadt” bekannt war, städtebaulich weiterentwickeln. Aufgrund der geographischen Lage Nahe den historischen und touristischen Vierteln Kairos ist das Gebiet ein lukratives Stadtentwicklungsgebiet. Mit der Privatisierung wollte die Regierung die Zabaleen aus diesem Gebiet vertreiben. Die Auswirkungen der Privatisierung für die Bevölkerung von Kairo und für die Zabaleen waren rasch spürbar: nur mehr 20 Prozent des Abfalls wurde recycelt, Abfälle in engen Straßen oder hohen Gebäude nicht mehr eingesammelt. Stattdessen wurden zentrale Sammelstellen mit großen Behältern eingerichtet, in denen die Bewohner*innen ihre Abfälle deponieren sollten. Die Kosten für die Müllabfuhr wurde über die Stromrechnungen eingehoben. Den Zabaleen wurde so ihre Lebensgrundlage entzogen. Zwar hatten die meisten Unternehmen ihnen versprochen, ihnen 50 Prozent des Mülls als Gegenleistung für ihre Hilfe beim Sortieren zu überlassen. Das war jedoch zu wenig – sie kamen nur mehr auf einen Bruchteil ihres bisherigen Einkommens. Rasch kam es zu massiven Protesten, organisiert von den Zabaleen ebenso wie von den Bewohner*innen Kairos. Urbaser und FCC, die beiden Unternehmen, die die Dienstleistung übernommen hatten, mussten nur sechs Monate nach der Übernahme kommunale Geldstrafen in der Höhe 2 Millionen US$ aufgrund des schlechten Service und unzureichender Straßenreinigung berappen. Hunderte von Bürger*innen in Kairo und Gizeh haben zudem die Regierung geklagt, weil sie auf ihren Stromrechnungen die Müllgebühren verrechnet hatten. Die Verbraucher gewannen den Fall und das Urteil beendete das Abrechnungssystem in Gizeh, Kairo und Alexandria. Der Protest war so groß, dass die ägyptische Regierung 2017 bzw. 2018 nach Ablauf der 15-Jahres-Verträge mit den Privaten, diese nicht verlängerte. Stattdessen wurde in allen drei Städten die Müllabfuhrdienste rekommunalisiert und schrittweise ein “neues” System auf der Grundlage der Zabaleen-Tür-zu-Tür-Sammlung eingeführt.
Das heute im öffentlichen Besitz befindliche Abfallwirtschaftssystem ermöglicht die Stärkung der Kreislaufwirtschaft in der Abfallwirtschaft und die Müllvermeidung. Das ist deshalb möglich, weil es eine Zusammenarbeit mit den jeweiligen informellen Abfallarbeiter*innen – wie den Zabaleen in Kairo – gibt und ihr Wissens und ihre Expertise genutzt wird. Auch in anderen Ländern Afrikas gibt es ähnliche Erfahrungen: Sansibar soll zu einer abfallfreien Insel gemacht werden; Algerien hat eine der höchsten Sammelquoten in Afrika, da es praktisch keine Beteiligung des privaten Sektors gibt. Das dort etablierte integrierte Abfallmanagementsystem dient der gesamten Bevölkerung, insbesondere der Landbevölkerung. Afrika hat zudem ein großes Null-Abfall-Potenzial durch die Etablierung einer Kreislaufwirtschaft, denn ein großer Teil des Abfalls ist organisch. Traditionelle Methoden wie die Verfütterung von Abfällen an Tiere oder ihre Verwendung als Dünger für den Boden werden seit Jahrhunderten praktiziert. Die Erfahrungen mit der Abfallprivatisierung in Ägypten haben klar gezeigt: Privatisierung ist für lokale, integrierte Formen der Abfallverwertung nicht förderlich. Und in Afrika leisten informelle Abfallarbeite*innen einen wichtigen aber selten anerkannten Beitrag für die Abfallwirtschaftssysteme in Afrika.
Das „Öffentliche“ demokratisieren und weiterentwickeln
Viele der Erfahrungen bestätigen: der Widerstand gegen Privatisierungen ist mit Blick auf die vielen negativen Auswirkungen für die Lebensqualität der Menschen und die Sicherstellung grundlegender, leistbarer Dienstleistungen wichtig. Das was Menschen anderswo gerade sich wieder mühsam wieder aneignen, ist bei uns öffentlich organisiert und wird oftmals als selbstverständlich gesehen: Volkshochschulen, Gemeindebauten, die öffentliche Müllabfuhr oder eine öffentliche Trinkwasserversorgung sowie leistbare Medikamente. Was können wir von diesen Erfahrungen im globalen Süden für die Stärkung und Sicherung unserer öffentlichen Daseinsvorsorge dennoch lernen?
Neue Formen und Prozesse der Organisierung und Teilhabe
Die Wiederaneignungsprozesse und soziale Innovation in Chile finden auf lokaler bzw. kommunaler Ebene statt und die Menschen sind in ihren unterschiedlichen Rollen an der Etablierung oder (Weiter)Entwicklung der Einrichtungen beteiligt: als Beschäftigte in den nunmehr kommunalen oder genossenschaftlichen Unternehmen, als Nutzer*innen der Dienste und als Bürger*innen ihrer Gemeinden. Darüber sind horizontale Lern- und Austauschprozess zwischen den Gemeinden ein wichtiges Element. Das Beispiel der Zabaleen in Ägypten macht sichtbar welches Potential für soziale Innovation und nachhaltige Formen des Wirtschaftens jene haben, die die Dienstleistungen unmittelbar erbringen. Dieses innovative Potential der Beschäftigten gilt es mit Blick auf die großen Herausforderungen in allen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu heben und stärker zu nutzen.
Experimentieren mit unterschiedlichen Formen des öffentlichen Eigentums
Es gibt eine große Bandbreite, wie öffentliches Eigentum gedacht und organisiert werden kann. Es gibt Unternehmen, die von der Gemeinde eingerichtet und verwaltet werden (z.B. die Volksapotheken), Partnerschaften zwischen Gemeinden und öffentlichen Einrichtungen (z.B. die offenen Universitäten) bis hin zu von Genossenschaften, die im Eigentum der Beschäftigten sind und die Dienstleistungskonzessionen erhalten. Öffentliches Eigentum ist somit mehr als eine ausschließlich staats-zentrierten Form, wie sie bei uns noch üblich ist und zuvor auch in Lateinamerika üblich war. Das „Öffentliche“ wird weiter entwickelt ebenso die öffentliche Verwaltung, in dem z.B. Akteure der Zivilgesellschaft mitbeteiligt werden.
[1] Ruiz Bruzzone, Felipe; Caviedes Hamuy Sebastián: 30 años de política neoliberal en Chile. Privatización de servicios públicos: su historia, impacto sobre las condiciones de vida y efectos sobre la democracia. Fundación Nodo XX. 2020 – www.modatima.cl/wp-content/uploads/2020/06/Nodo-XX-30-a%C3%B1os_de_politica-neoliberal-en-Chile.pdf
[2] https://www.civicus.org/index.php/media-resources/news/interviews/4271-chile-has-entirely-privatised-water-which-means-that-theft-is-institutionalised
[3] www.derechoalagua.cl
[4] www.modatima.cl
[5] https://multinationales.org/Remunicipalisation-de-l-eau-Suez-menace-le-Chili
[6] Panez Pinto, Alexander: Rebuilding public ownership in Chile: social practices in the Recoleta comune and challenges to overcoming neoliberalism. In: TNI: The Future is Public: Towards Public Ownership of Public Services. 2020 – www.futureispublic.org
[7] Patel, Pratchi: Rivers of Plastic. In Scientific American 318, 2, 15-17, February 2018
[8] Weghmann, Vera: Africa: Private waste service failure and alternative vision. In: TNI: The Future is Public: Towards Public Ownership of Public Services. 2020 – www.futureispublic.org
Tag:Afrika, ATTAC, globaler Süden