Wien hat Frauengesundheit im Fokus von Kristina Hametner
Im Wiener Programm für Frauengesundheit steht die psychische und physische Gesundheit von Mädchen und Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen im Mittelpunkt. Denn Frauen sind nach wie vor in vielen Lebensbereichen benachteiligt und das hat Auswirkungen auf ihre Gesundheit.
Das Geschlecht ist ein wesentlicher Faktor, der Gesundheit und Wohlbefinden beeinflusst. Das betrifft das biologische Geschlecht ebenso wie das soziale Geschlecht, die Geschlechterrolle. Aber auch andere Faktoren wie Alter, Einkommen, Bildung, Migrationserfahrung, sexuelle Orientierung beeinflussen die Gesundheit. Studien belegen immer wieder, dass soziale Ungleichheit mit ungleicher Verteilung von Gesundheitschancen einhergeht. Das Geschlecht ist in diesem Zusammenhang eine wesentliche Gesundheitsdeterminante, denn Frauen sind nach wie vor in vielen Lebensbereichen stark benachteiligt. Für einen umfassenden Zugang zu Gesundheit, wie er im Wiener Programm für Frauengesundheit gelebt wird, heißt das, immer wieder auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen hinzuweisen, die außerhalb des Gesundheitsbereichs liegen, aber die Gesundheit von Frauen beeinflussen: im Bildungsbereich, im Arbeitsmarkt, im Sozialbereich, in der Umweltpolitik, in der Wirtschaftspolitik, in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in Normensystemen, über Rollenbilder… und vieles mehr.
Die Stadt Wien hat mit dem Wiener Programm für Frauengesundheit bereits 1998 eine Strategie beschlossen, die Gesundheit von Frauen umfassend versteht und das ist Basis für unsere Arbeit.
Ein Auszug:
Frauengesundheit und Corona
Mittlerweile leben wir mehr als zwei Jahre mit der Corona-Pandemie. Das Virus war von Beginn an mehr als eine direkte Bedrohung für die Gesundheit der Menschen, es hat – um diese zu schützen – eine Vielzahl von Maßnahmen mit sich gebracht, die unser Leben dramatisch beeinflusst haben und manche tun es noch: Lockdowns des öffentlichen Lebens, Homeoffice, Homeschooling, Homecooking, Abstandsregeln, Maskenpflicht, Ausgangsbeschränkungen, Kurzarbeit und noch viel mehr. Gleich zu Beginn der Pandemie stellte sich die Frage wie unterschiedlich Frauen und Männer von der Pandemie bzw. den Maßnahmen betroffen sind und es wurde auch rasch medial Thema. Wir haben sehr schnell den feministischen Public-Health Sammelband „Frauengesundheit und Corona“, basierend auf einem breiten Gesundheitsbegriff und einem Verständnis von Health in All Policies herausgegeben. Dieser Sammelband zeigt auf vielfältige Weise und unter verschiedenen Aspekten, dass es Frauen sind, denen mehr zugemutet wurde und die – so die Prognosen – längerfristig unter den Folgen leiden werden.
Selfie, Selfie in der Hand…
Mädchen und Frauen sind einem enormen Druck ausgesetzt, bestimmten Körpernormen zu entsprechen, um medial vermittelten Erwartungen und unrealistischen Idealen zu entsprechen. An Mädchen werden von klein auf andere Erwartungen gesetzt als an Buben. Diese Sozialisationseffekte führen dazu, dass sie sich weniger zutrauen, sich weniger durchsetzen. Sie lernen aber gleichzeitig sehr bald einen externalisierten Blick auf sich, übernehmen die Perspektive des Betrachters und beurteilen sich selbst aufgrund ihrer äußeren Erscheinung. Das Aussehen – lernen sie – bringt ihnen soziale Anerkennung. Also Anerkennung nicht wegen Stärken und Fähigkeiten, sondern aufgrund des Aussehens. Social Media verstärken dies mit ihrer Flut an bearbeiteten Bildern und geschönten perfekten Welten. Schönheitschirurg*innen berichten bereits vom Wunsch junger Frauen nach Schönheits-Operationen nach dem Vorbild des virtuellen Selbstbilds.
Das Wiener Programm für Frauengesundheit hat mit der Social Media Kampagne „Bauch, Beine, Pommes“, die sich an das populäre Format der Fitness-Youtube-Channels anlehnt, den Druck nach Perfektion des Körpers aufgegriffen und parodiert.
Erwachsene Frauen sind von diesem Druck nicht ausgenommen. Social Media spülen per Instagram die alten traditionellen Rollenbilder der perfekten Frau, die Körper, Kinder, Beziehung, Job und Haushalt mit links in Schuss hält, aufs Smartphone. Selbstverständlich ist dies nur ein Ausschnitt unserer Gesellschaft, aber virtuelle Welten sind mächtig und beeinflussen unsere Sicht auf die Welt. Und wenn diese Welten ein Scheitern schon in sich tragen, weil sie permanente Perfektion verlangen, verursachen sie ungesunden Stress. Oder führen auch zu fragwürdigen Entscheidungen, wenn Ärzt*innen von steigender Nachfrage nach Schamlippenverkleinerungen berichten, weil Frauen sich eine Jungmädchenvulva wünschen.
Mein Körper gehört mir
Ungesund sind auch Tabus rund um die Menstruation, Mythen rund um weibliche Sexualität, die primär der Unterdrückung von Frauen dienen; fehlende schöne – richtige – Begriffe für das weibliche Geschlecht, wenn von „da unten“ oder der „Scham“ gesprochen wird.
Die Geschichte der Sexualität der Frauen und der menschlichen Reproduktion ist eine Geschichte männlicher Deutungshoheit über den weiblichen Körper. Frauen haben sich das Recht auf Selbstbestimmung über ihren Körper im letzten Jahrhundert erkämpft und damit auch das Recht, selbst über die eigene Familienplanung entscheiden zu dürfen. Seit 1975 haben wir in Österreich die sogenannte Fristenlösung, die den straffreien Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate erlaubt. Dieses Recht gilt es einerseits zu verteidigen, andererseits dafür zu sorgen, dass es entsprechende Strukturen gibt und Frauen darüber gut informiert sind, denn ein medizinischer sicherer Schwangerschaftsabbruch ist eine zentrale Frage der Frauengesundheit. Wir haben dazu den Folder „Meine Entscheidung. Schwangerschaftsabbruch in Wien“ erstellt.
Wissen über den Körper und Verhütung ist die beste Voraussetzung gegen ungewollte Schwangerschaften. Die Broschüre „Wir haben Lust drauf- aber sicher! Verhütung im Überblick“ informiert über die vielen unterschiedlichen Verhütungsmethoden und deren Wirksamkeit, aber auch über Vulva und Klitoris.
Unsere 14-teilige Videoclip-Serie „Liebe, Sex und Klartext“ thematisiert Mythen rund um Jungfernhäutchen, Orgasmus und Verhütungsmethoden ebenso wie die Vielfalt sexueller Identitäten und Orientierungen.
Auch Belastungen rund um ungewollte Kinderlosigkeit – jedes sechste bis siebente Paar ist davon betroffen – und die Möglichkeiten der Assistierten Reproduktion sind Thema der Frauengesundheit. Denn es sind die Frauen, die die psychische und physische Hauptlast tragen, wenn sich ein Paar für eine künstliche Befruchtung entscheidet. Unsere Broschüre „Wenn das Wunschkind auf sich warten lässt. Gut informiert die richtige Entscheidung treffen“ richtet sich an Kinderwunschpaare und informiert insbesondere über die psychosozialen Aspekte bei der künstlichen Befruchtung.
Pränatal-diagnostische Untersuchungen werden immer häufiger vorgenommen. Unsere Aufgabe ist es, Schwangere über die Möglichkeiten und die Grenzen der Pränatal-Diagnostik zu informieren, auch über ihr Recht auf Nicht-Wissen. Und auch darauf hinzuweisen, was dieser Prozess für Schwangere bedeutet, welche Unsicherheit es mit sich bringen kann, welche psychischen Prozesse bei einem falsch-positiven Befund ablaufen, wie behutsam Ärztinnen und Ärzte mit dem Thema umgehen sollten: Broschüre „Pränatal-Diagnostik. Untersuchungen in der Schwangerschaft. Gut informiert entscheiden“.
Schwangerschaft und Geburt sind Life Events, die besonders vulnerabel sind. Auch unter den besten Bedingungen durchlaufen viele Schwangere sowohl körperliche als auch psychische Höhen und Tiefen und rund ein Drittel aller Schwangeren fühlt sich zeitweise unglücklich. Die Geburt selbst ist ein überwältigendes Erlebnis, das Frauen als selbstbestimmt durchleben, oder aber auch als „Gewalt“ erleben können, wenn sie während der Geburt nicht auf Augenhöhe angesprochen werden und über sie hinweg bestimmt wird. Seit den Anfängen des Wiener Programms für Frauengesundheit sind diese Themen im Zentrum unserer Arbeit und viele Informationen dazu sind auf www.frauengesundheit.wien.at zu finden.
Das bisschen Haushalt…
Die Erwartung an Frauen, die Versorgungsarbeit zu übernehmen, sich um andere zu kümmern und zu pflegen, schwächt die Gesundheit von Frauen. Spätestens wenn aus dem Paar eine Familie mit Kind(ern) wird, sollen sie nur noch Teilzeit arbeiten – und das in Österreich sehr lange, bis „die Kinder aus dem Gröbsten draußen sind“, weil Österreich ein konservatives Familienbild hat. Die Pandemie hat dies noch verstärkt und wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar gemacht. Mehr als die Hälfte der Österreicher*innen meinen, dass die Familie darunter leidet, wenn die Mutter voll berufstätig ist und es ausreichend Bildungseinrichtungen für Kinder gibt, Tatsächlich müsste niemand leiden, wenn bezahlte und unbezahlte Arbeit insgesamt anders verteilt wäre. Wenn bezahlte und unbezahlte Arbeit zwischen den Geschlechtern gerecht verteilt wäre, würden Frauen ein besseres Einkommen haben, unabhängiger sein, hätten weniger Stress und Belastung, könnten sich leichter aus ungesunden Beziehungen lösen und wären im Alter weniger armutsgefährdet. Armut macht krank, führt zu mehr Beschwerden und Krankheiten, zu ungesunden Lebensjahren im hohen Alter und reduziert sogar die Lebenszeit.
Gute Strukturen für Kinderbetreuung und Pflege von pflegebedürftigen Menschen sind für gesundheitliche Chancengerechtigkeit und dem Schutz vor Altersarmut daher ebenso essenziell, wie eine Gesellschaft die sich von tradierten Rollenbildern löst und Care-Arbeit nicht primär Frauen zuschreibt.
Gewalt gegen Frauen
Die hohe Zahl an Femiziden bringt das Thema Gewalt gegen Frauen an die sichtbare Oberfläche. Jede fünfte Frau in Österreich erlebt körperliche oder sexuelle Gewalt. Doch nicht die schummrige Gasse oder der finstere Park sind die gefährlichen Orte, sondern das eigene Zuhause. Rund 90 Prozent aller Gewalttaten passieren in den eigenen vier Wänden und fast immer sind Mädchen und Frauen die Opfer. Frauen und Mädchen, die Gewalt durch ein Familienmitglied, den Beziehungspartner oder durch jemand aus dem Bekanntenkreis erleben, fällt es oft schwer, darüber zu sprechen. Wenn das soziale Umfeld außerdem häusliche und sexualisierte Gewalt bagatellisiert oder tabuisiert, gelingt es manchen oft erst nach Jahren, über diese Vorfälle zu sprechen. Einrichtungen des Gesundheitssystems sieht die Weltgesundheitsorganisation WHO in einer Schlüsselrolle und fordert von diesen einen sensiblen Umgang mit Gewaltopfern und Parteilichkeit ein: Krankenhäuser und ärztliche Ordinationen sind die erste Anlaufstelle zur Behandlung der Folgen körperlicher und psychischer Gewalt. Neben der medizinischen Versorgung bedarf es der professionellen Spurensicherung, Dokumentation und Gesprächsführung. Das Wiener Programm für Frauengesundheit organisiert dazu gemeinsam mit dem Wiener Gesundheitsverbund regelmäßig die interdisziplinäre dreiteilige Fortbildungsreihe „Gewalt macht krank“ und arbeitet an der Vernetzung der Wiener Opferschutzgruppen, um Strukturen im Gesundheitssystem zu verbessern.
Frauen und Flucht
Wir erleben derzeit Unvorstellbares, einen Krieg in Europa und Millionen Menschen, primär Frauen und Kinder, die aus ihrer Heimat, der Ukraine, flüchten müssen. Wir thematisieren seit 2015 insbesondere auch die gesundheitliche Situation von weiblichen Flüchtlingen und stehen in regelmäßigem Austausch mit Expertinnen und Experten aus dem Asyl- und Gesundheitsbereich. Ziel ist, eine adäquate medizinische Versorgung zu gewährleisten und geschlechtsspezifische Bedürfnisse zu berücksichtigen. Denn Flucht ist nicht geschlechtsneutral, so können weibliche Flüchtlinge zum Beispiel von sexualisierter Gewalt betroffen oder der Gefahr von Menschenhandel ausgesetzt sein.
Das Wiener Programm für Frauengesundheit wurde im Jahr 1998 vom Wiener Gemeinderat beschlossen und wird seit 2016 unter der Leitung von Mag.a Kristina Hametner gemeinsam mit einem Team aus sieben Frauengesundheitsexpertinnen umgesetzt.
Uns geht es darum, für ein frauengerechteres Gesundheitssystem zu sorgen, Fachleute ebenso wie die Öffentlichkeit für ein gendergerechtes Verständnis von Gesundheit zu sensibilisieren und auf Gesundheitsrisken von Mädchen und Frauen hinzuweisen und diese zu reduzieren. Wir möchten ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Gesundheit eine soziale Dimension ist und Frauengesundheit daher in vielen Bereichen beeinflusst wird und gestärkt, aber auch geschwächt werden kann. Wir bemühen uns die Gesundheitskompetenz von Mädchen und Frauen zu stärken und die Frauengesundheitskompetenz von Organisationen zu erhöhen und wirken als Motor für Maßnahmen, die die Gesundheit von Mädchen und Frauen stärken.
https://www.facebook.com/Wiener.Programm.fuer.Frauengesundheit
Kristina Hametner
Soziologin und Frauengesundheitsexpertin, seit 1997 Mitarbeiterin der Wiener Stadtverwaltung: von der Frauenabteilung über die Abteilung Statistik in die Geschäftsführung der neu gegründeten Wiener Gesundheitsförderung. Seit 2016 Leiterin des Büros für Frauengesundheit und Gesundheitsziele und des Wiener Programms für Frauengesundheit in der Abteilung Strategische Gesundheitsversorgung. Das Wiener Programm für Frauengesundheit verfolgt einen intersektoralen Ansatz, aktuelle Themenfelder sind sexuelle und reproduktive Gesundheit, Schwangerschaft und Geburt, Körpernormen, Arbeitsleben, Herausforderungen in verschiedenen Lebensphasen, Gewalt gegen Frauen, Digitalisierung.
Tag:Frauengesundheit