Wohnen in Wien von Karin Ramser

Vom Leben im Gemeindebau
Seit der Finanzkrise 2008 legen immer mehr Menschen – jene, die es sich leisten können – ihr Geld in sicherem „Betongold“ an. Wohnungen als Anlageobjekte sind weniger abstrakt als Aktien. Mit fatalen Folgen: Wohnen wird immer mehr zur lukrativen Investition und damit zu einem Spekulationsobjekt. In Wien findet man trotz dieser Entwicklungen noch leistbare Wohnungen, wie macht das die Stadt?
Wohnen als Menschenrecht
Wohnungs- und damit Mietpreise steigen ständig an. Für Menschen mit niederem Einkommen wird es immer schwieriger, adäquaten Wohnraum zu finden. 2018 ist Leilani Farha, UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Wohnen bei der Konferenz “Housing for All – Affordable Housing in Growing Cities in Europe” zu Gast bei Wiener Wohnen.
Für die Juristin Farha ist Wohnen ein Menschenrecht und keine Ware. Sie kritisiert bei der Konferenz die zuneh-mende Obdachlosigkeit auch in Europa. Für die Preisentwicklung am Wohnungssektor macht sie den Neolibera-lismus verantwortlich. Denn ein nie da gewesener Reichtum werde in Wohnraum geparkt, so Farha in ihrem Vor-trag. Das ergebe viel Profit für einige wenige, für alle anderen würden Mieten steigen und Mietverträge gekün-digt, bestehender Wohnraum vernachlässigt und mit Neubauprojekten nur mehr das Luxussegment bedient.
Ebenfalls Gast bei der Konferenz war die Wohnbauforscherin Orna Rosenfeld. Sie zeigt auf, dass durch den massi-ven Anstieg der Wohnungspreise und Mieten in den Ballungsräumen 82 Millionen Europäer bereits mehr als 40 Prozent ihres Haushaltseinkommens für Wohnen aufwenden. Die Wartelisten für soziale Wohnprojekte seien europaweit so lang wie nie.
Schaut man nach Wien, so steht die Stadt im internationalen Vergleich bei den Mietpreisen relativ gut da. Das liegt vor allem am flächendeckend ausgebauten sozialen Wohnbau. Rund 60 Prozent der Menschen in Wien le-ben in geförderten Wohnungen. So günstig wie im Gemeindebau wohnt man in Wien sonst nirgendwo: die Net-to- Richtwertmiete beträgt ohne Betriebskosten zwischen EUR 2,62 / m2 und EUR 5,81 / m2. Das wirkt bremsend auf die Mietpreisentwicklung.
Der hohe Anteil an sozialem Wohnbau macht Wien somit zum Mekka all jener, die in ihren Städten mit explodie-renden Mietpreisen und daraus resultierenden sozialen Verwerfungen zu kämpfen haben. Wie macht Wien das? Dazu muss man das Rad der Zeit rund 100 Jahre zurückdrehen.
100 Jahre Gemeindebau
Im Wien der Jahrhundertwende leben rund zwei Millionen Menschen. Als Hauptstadt eines Vielvölkerstaates zieht Wien Menschen aus allen Teilen der Habsburgerreiches an. Im Bauboom der Gründerzeit entstehen entlang der Ringstraße neben den Prachtbauten der Monarchie die Palais des Adels und des reichen Bürgertums. Errich-tet wurden sie von den zugereisten Arbeitern, die unter prekärsten Bedingungen ihr Leben fristen.
In den letzten Jahren vor Ausbruch des 1. Weltkriegs beginnt sich die Situation langsam zu ändern. Der politische Druck, den besonders die Sozialdemokraten auf die in Wohnungsfragen weitgehend untätige bürgerliche Stadt-regierung ausüben, wird immer größer.
Start des Wohnbauprogramms im „Roten Wien“
Am 4. Mai 1919 erhalten die Sozialdemokraten im Wiener Gemeinderat die Mehrheit. Mit Jakob Reumann wird erstmals ein Sozialdemokrat zum Bürgermeister der Stadt gewählt. Schon kurze Zeit danach wird im Juni 1919 mit der Errichtung des Metzleinstaler-Hofs in Wien-Margareten begonnen. Ziel der kommunalen Wohnbauprogram-me ist es, einer breiten Bevölkerungsschicht leistbare Wohnungen in hoher Qualität zur Verfügung zu stellen. In Folge beschließt der Gemeinderat die großen Wohnbauprogramme der Stadt, finanziert durch Luxusabgaben auf den Kauf von nicht unbedingt erforderlichen Gütern und Dienstleistungen.
Gesamt werden im „Roten Wien“, den Jahren der 1. Republik bis zur Auslöschung der Demokratie 1934, über 66.000 Wohnungen errichtet. Wohnungen, die über einen Wasseranschluss und Innentoiletten verfügen. Woh-nungen, die mehr als nur Wohnraum bieten: Kindergärten, Schulen, Büchereien und Gemeinschaftseinrichtun-gen wie Waschküchen gehören zu den Wohnhausanlagen ebenso dazu wie weitläufige Grünanlagen, ganz dem Motto gerecht „Licht, Luft, Sonne“.
Wiederaufbau bis Gemeindebau NEU
Während des Ständestaats und des 2. Weltkriegs kommt der kommunale Wohnbau nahezu zum Erliegen. Im nati-onalsozialistischen Wien werden vor allem Baulücken mit kleinen Häusern geschlossen. Einige der Gemeindebau-ten werden im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Der gesamte Gemeindebaubestand wird nach dem Krieg wie-der instandgesetzt. 1948 wird ein Wohnhauswiederaufbaufonds ins Leben gerufen und der kommunale Wohn-bau nimmt wieder Fahrt auf. 1951 wird die 100.000ste Wohnung seit Start des Wohnbauprogramms der 1. Re-publik fertiggestellt.
In den 1960er-Jahren wachsen die Gemeindebauten in den Himmel, es ist die Zeit der Hochhaussiedlungen. 1978 wird die Grundsteinlegung der 200.000sten Wohnung gefeiert. 2004 wird der vorläufig letzte Gemeindebau errichtet. In den Folgejahren verlagert die Stadt den geförderten Wohnbau vom Gemeindebau hin zu geförder-ten Wohnbauträgern. Erst 2015 beschließt der Gemeinderat, wieder Gemeindewohnungen mit einer eigens gegründeten Gesellschaft zu bauen. Rund 4.000 dieser „Gemeindewohnungen NEU“ sind bis Ende 2020 auf den Weg gebracht. Der erste dieser Gemeindebauten NEU, der Barbara-Prammer-Hof in Wien Favoriten wird im Herbst 2019 an die Mieterinnen und Mieter übergeben.
Bis 2025 sollen im Programm „Gemeindebau(t)“ weitere 1.500 Wohnungen dazu kommen, dafür wird Wiener Wohnen selbst Bauherrin sein.
Gemeindebau(t)
Wien ist laut Mercer-Studie eine der attraktivsten und leistbarsten Millionenstädte der Welt. Der Hauptgrund dafür ist der geförderte Wohnbau. Mit „Gemeindebau(t)“ soll dieses internationale Vorzeigemodell weiter ausge-baut und ein nachhaltiges Bauprogramm für die Zukunft des Gemeindebaus gestartet werden.
220.000 Gemeindewohnungen: hohe soziale Verantwortung
Heute verwaltet Wiener Wohnen als größte kommunale Hausverwaltung Europas rund 220.000 Wohnungen. Verteilt über die ganze Stadt finden sich in jedem der 23 Bezirke Gemeindebauten, in der City genauso wie am Stadtrand: In Wien lässt sich damit der soziale Status nicht an der Wohnadresse ablesen.
Keine andere Stadt in Europa verfügt über eine derartige Kontinuität der sozialen Wohnungspolitik wie Wien. Die Verantwortlichen bekannten und bekennen sich nach wie vor zum Gemeindebau. Im Gegensatz zu vielen ande-ren Städten haben sie zu keinem Zeitpunkt den Verkauf des kommunalen Eigentums in Betracht gezogen. Das macht sich heute bezahlt, auch in der Pandemie.
Durch die Corona-Pandemie sind viele Menschen am privaten Wohnungsmarkt von Obdachlosigkeit bedroht. Die Stadt Wien kann mittels Wiener Wohnen auch diesen Menschen günstigen Wohnraum zur Verfügung stellen.
Gesellschaftliche Verantwortung: im Mittelpunkt der Mensch
Die Prinzipien unternehmerischer Sozialverantwortung sind in die Geschäftsstrategie von Wiener Wohnen inte-griert und werden in konkreten Aktivitäten umgesetzt. Unter anderem im Zielgruppenmanagement: Rund 500.000 Menschen aus über 180 Herkunftsländern wohnen im Gemeindebau. Junge, Alte, Familien und Singles, Menschen aus dem Mittelstand ebenso wie Menschen mit geringem Einkommen, Akademikerinnen und Akade-miker, Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher, Gesunde und Kranke, Arbeitslose und Arbeitende. Um speziel-ler auf die Wohnbedürfnisse alle dieser Gruppe eingehen zu können, wurde eine eigene Zielgruppensteuerung ins Leben gerufen. Aber nicht nur diesen gesellschaftlichen Herausforderungen stellt sich Wiener Wohnen: die Auswirkungen des Klimawandels auf das Wohnen, die zunehmende Armut, das Zusammenleben im Gemeindebau sind Themen, die bewältigt werden müssen. Im Mittelpunkt aller Maßnahmen stehen immer der Mensch und die Leistbarkeit des Wohnens.
Zur Autorin:
Die Juristin Karin Ramser leitet seit 2017 die Unternehmung Stadt Wien – Wiener Wohnen. Zuvor war die Miet-rechtsexpertin für die Stadt Wien im Bereich Gewerberecht, Datenschutz und Personenstand und in der Finanz-verwaltung tätig. 2012 wurde sie zur stellvertretenden Direktorin von Wiener Wohnen bestellt. Rund 4.000 Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter sind ihr bei Wiener Wohnen und den Tochterunternehmen Wiener Wohnen Kundenservice Gmbh und Hausbetreuung Wien Gmbh unterstellt.
Wiener Wohnen verwaltet, saniert und bewirtschaftet die städtischen Wohnhausanlagen Wiens. Dazu gehören rund 220.000 Gemeindewohnungen, rund 6.000 Lokale und über 47.000 Garagen- und Abstellplätze. Damit ist Wiener Wohnen die größte kommunale Hausverwaltung Europas. In den 1.800 Gemeindebauten wohnen rund 500.000 Wienerinnen und Wiener.
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